Donnerstag, 12. Juli 2012

Freikarten

Noch eine halbe Stunde bis ich abgeholt werde. Leicht panisch renne ich durchs Haus. Duschen? Nee das schaff ich nicht mehr, oder doch? Ich entscheide mich dagegen, stürme in mein Zimmer. Schminke, wo hatte ich die bloß hingelegt? Im Kleiderschrank und den beiden Koffern ist sie nicht, auch nicht im Chaos, das sich auf dem zweiten Bett breit machte. Schublade! Ich pudere meine Nase, schminke meine Wimpern.
Es ist schwül und warm in meinen Zimmer, einzelne Gewitterwolken ziehen am Fenster vorbei. Kurz darauf steht das Auto vor dem Haus, ich stürze hinaus und begrüße Anne, eine Arbeitskollegin. Wie geht es dir, fragt sie mich. Wir halten den üblichen Smalltalk, ich gucke währenddessen in meiner Handtasche nach ob ich an die Konzertkarte gedacht habe, welche ich geschenkt bekommen habe.

In der Stadt suchen wir verzweifelt einen Parkplatz, die Zeit rennt und die anderen nehmen uns die Parkmöglichkeiten weg. Anne fährt über die große Brücke an der Burg vorbei, sie wisse wo sie hinfahre, meint sie. Endlich kommt das Auto zum Stehen, wir steigen aus und laufen die geteerte Straße hinauf, ich klettere mit hohen Schuhen über Bahngleise und eine Absperrung. Die Zugbrücke ist kürzer als die für die Autos. Die restlichen zweihundert Meter führen über einen Kieselweg, ziemlich spaßig mit den falschen Schuhen. Trotzdem lasse ich mir nichts anmerken, versuche möglichst elegant die Strecke zu meistern.

Vor Olavinlinna, so heißt die berühmte mittelalterliche Burg, stehen unzählige Menschen Schlange. Sie unterhalten sich leise, kaum ein Ton dringt zu mir vor. Etliche haben richtig schöne Kleider und Anzüge an, ich fühle mich underdressed. Die meisten sind locker dreißig Jahre älter als ich. Es dauert eine halbe Stunde, bis wir endlich in der Burg und an unseren Plätzen sind. Ich nehme in der siebten Reihe, ganz weit vorne neben der Bühne, Platz. Ungefähr 2500 Sitzplätze stehen zur Verfügung, ein Raunen geht durch die Menge, als es endlich dunkel wird. Zwei lang- und ein kurzhaariger betreten mit ihren Cellos in der Hand die Bühne. Das Publikum klatscht vornehm. Von hinten kommt ein weiterer, der sich hinter Schlagzeug setzt. Es geht los. Der Saal wird in grünes und später in rotweißes Licht getunkt. Die Cellisten spielen einige Musikstücke, die Menge lauscht. Endlich taucht ein Sänger auf, erste Menschen fangen an ihre Köpfe hin und her zu bewegen. Eine tolle Show beginnt, der Schlagzeuger schleudert die Sticks durch die Luft und fängt sie wieder auf. Die Cellisten spielen in allen erdenklichen Weisen, reißen sich die T-Shirts von Leib. Die Frauen kreischen verzückt. Mal wird das Cello über den Kopf gehalten und bespielt, mal liegt es fast am Boden. So als wären diese Instrumente E-Gitarren. Fehlt nur, dass einer von ihnen seines zerschmettert. Dazu Headbanging, die langen Haare fliegen durch die Gegend.

Pause.

In allen Richtungen quetschen sich die Leute zu den Getränkeständen. Die Unterbrechung ist fast vorbei, als ich endlich frische Luft schnappen kann. Mit einem Gong werden wir zurück zu unseren Plätzen geschickt.

Apocalyptica kommt zurück auf die Bühne, dieses Mal scheinen die Finnen endlich Feuer gefangen zu haben. Sie trampeln mit den Füßen und klatschen laut. „Wir wurden gefragt, ob wir statt Metall auch Orchestermusik beherrschen“, erzählt einer der Cellisten.
Sie setzen sich auf die Stühle, drei andere Männer betreten die Bühne. In den Händen halten sie Trompete, Horn und Posaune. Es ist unbeschreiblich grotesk, wie drei Männer in typischem Metall-Outfit, Bach und Wagner spielen. Der Schlagzeuger begleitet auf dem Kontrabass.

Die Menge tobt. Standing Ovations folgen. Jeder im Publikum steht und klatscht, jubelt und pfeift. Ab da ist selbst der Letzte ergriffen, wir tanzen zu den nächsten Stücken, gecoverte Versionen anderer Bands folgen. Nach einer Weile setzen wir uns alle wieder, bis auf eine alte Dame im Opernkleid. Sie tanzt und bewegt ihren Kopf als würde sie headbangen.
Am Ende des zweistündigen Konzertes gibt es noch mehrere Zugaben, bevor wir wieder nach Hause fahren.



Den nächsten Tag verbringe ich mit einer Freundin, welcher ich beim Umzug und Putzen der neuen Wohnung helfe. Zusammen kaufen wir ihr abschließend ein Bett, welches ich am liebten selbst gehabt hätte. So weich und fluffig ist es.

Um sechs Uhr erreicht mich ein Anruf von Eija, die mich fragt, ob ich mit zur Oper wolle. Um sieben solle ich draußen warten, sie werde mich abholen. Eine Stunde zum schick machen für eine Oper? Eine neue Herausforderung!

Wieder eile ich in mein Zimmer und versuche mich irgendwie passend zu kleiden. Ich entscheide mich für das rote Sommerkleid und werde tatsächlich kurz darauf abgeholt. Jarmo parkt das Auto auf dem Parkplatz seiner Mutter, die in der Nähe der Burg wohnt. Zu dritt spazieren wir zur Olavinlinna. Da es regnet, brauchen wir weniger Zeit um in die Festung zu gelangen, denn die Menschengruppen stürmen zeitweise hinein und trödeln nicht mehr.

Dieses Mal habe ich eine Freikarte für die zwölfte Reihe erhalten. Wieder sehr weit vorne, leider nicht nah genug, um das Orchester spielen zu sehen. Dafür kann ich den Kopf des Maestros beobachten, der sich wild auf und ab bewegt.
Die finnische Version der Zauberflöte ist sehenswert. Das Bühnenbild wirkt schlicht, drei Bäume stehen in der Mitte und in ihnen sitzen Männer, die sie hin und her bewegen lassen. Papageno überzeugt mich am meisten. Seine Mimik und Gestik sind überragend, sein verschmitztes Lächeln lässt sich selbst über die Entfernung erkennen. 
Die Atmosphäre in dem Innenhof der Burg ist voller Spannung und Hoffnung. 
Wird Tamino die Prüfungen bestehen? Findet Papageno endlich seine große Liebe? Was geschieht mit Pamina? Und ist Sarasto wirklich durch und durch böse, so wie er sich anfangs gibt?

Plötzlich wird der Saal dunkel, bis auf einmal warmes Licht den Hof durchflutet. Auf der Bühne steht der riesige Chor, gekleidet in Weiß und lässt mich die Luft anhalten. Welch schönster Anblick!
Die Opernsänger und Schauspieler versammeln sich, Papagenos Kinder toben von der einen zur anderen Seite.
Das Happy-End lässt jeden zufrieden und lächelnd die Burg verlassen.
         
Doch anstatt zurück zum Opisto zu fahren, gehen wir drei in unserer schicken Kleidung zu Subway. Das erste Mal für meine beiden Begleiter.

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