Samstag, 31. Dezember 2011

happy new year!

Es wird nun Zeit sich an die Tage des vergangenen Jahres zu erinnern und eventuell ein wenig sentimental zu werden.
Hast du viel Neues ausprobiert?
Deine Ideen umgesetzt und Ziele erreicht?
Bist du zufrieden?
Was möchtest du im nächsten Jahr verändern?
Welche Momente waren für dich die schönsten und unvergesslichsten?
Sind Träume in Erfüllung gegangen?

Ich wünsche dir einen großartigen Rutsch ins neue Jahr - 2012! Denke daran, am 21.12.2012 geht wie Welt unter - also lebe, lebe richtig und bewusst!

Liebe Grüße
Rica

P.S. natürlich melde ich mich im nächsten Jahr wieder - mit dem Ziel, öfter zu schreiben. Mal sehen ob ich das umsetzen kann.

Dienstag, 27. Dezember 2011

UNO-Christmas

Am frühen Morgen des 23. Dezembers mache ich mich auf, um nach Vihti zu fahren.
In dieser Stadt möchte ich mit anderen Freiwilligen Weihnachten verbringen. Ich habe mich ziemlich spontan dafür entschieden, vorher war ich zwischen dieser und einer familiären Weihnachtsversion hin und her gerissen.
Während der fünf Stunden langen Bahnfahrt lese ich eine Anthologie verschiedener Weihnachtskrimis und bereite mich somit bestens auf das schrecklichst mögliche Szenario vor.

An diesem Tag sind viele Reisende unterwegs und da ich keine Sitzplatzreservierung habe, muss ich eine Stunde vor Helsinki meinen Sitzplatz wechseln. Mit meinem Fahrtenbären auf den Rücken gehe ich durch einige Abteile und entdecke dabei ein Reiseabteil auf, das speziell für Kinder hergerichtet ist.

Während ich mich in das Abteil darunter setze, verfliegt meine Begeisterung ziemlich schnell, denn ich höre die gesamte restliche Stunde das Rennen kleiner Füße über mir. Wie kommt man überhaupt auf die Idee ein Kinderabteil nach oben zu setzen? 

Manchen männlichen Wesen fehlt es an praktischer Veranlagung.
Als ich endlich in Helsinki ankomme, kämpfe ich mich durch riesige Menschenmassen bis nach vorne an die Supermarktkasse.
Mir fehlt allmählich wirklich das Verständnis für all diejenigen, denen am Tag vor Weihnachten einfällt, dass sie noch nicht alles eingekauft haben. Es sind ja nicht einzelne Personen, nein, es sind tausende. Und die gefüllten Einkaufswagen erinnern mich an so manchen Katastrophenfilm, in dem sich die Betroffenen mit Lebensmitteln für die nächsten zwanzig Jahre eindecken.
Ob ich am Tag vor Weihnachten in Deutschland oder in Finnland den Supermarkt betrete, macht absolut keinen Unterschied.

Knapp eine Stunde später, erreiche ich den Busbahnhof und warte nur wenige Minuten auf die Abfahrt meines Busses, der mich nach Vihti bringt. Mittlerweile ist es dunkel und es regnet. Ich erinnere mich, wie ich mit der Vorfreude nach Finnland gereist bin, eine hundertprozentige Schneewahrscheinlichkeit an Weihnachten zu haben.
Als ich nach einer Stunde in der Zielstadt ankomme, sehe ich nichts. Nur eine Tankstelle und einen Supermarkt. Das ist die Innenstadt?
Doğ kommt aus der Ferne auf mich zu gelaufen. Ich erkenne ihn an seinem extrem auffälligen Gang. Er schaukelt mehr hin und her als ein Kölner nach fünf Kölsch während der Karnevalszeit. „Hast du Hunger?“, fragt er mich und zieht mich in ein kleines Restaurant, welches mir vorher nicht aufgefallen ist.
Seine Freunde sind die Betreiber des Bibers. Ich esse ein belegtes Vollkornbrötchen und kämpfe gegen ein Gähnen an. Ein Gast zeigt mir die Funktionsweise eines Spielautomaten und ich gewinne sogar einige Euros. Trotzdem ergreift mich das Gefühl nicht und ich freue mich sehr, als Doğ mich nach draußen zieht und wir uns auf den Weg machen. Nach zwei Minuten stehen wir im Supermarkt, weit geschafft haben wir es nicht. Wir kaufen noch ein paar Kleinigkeiten ein und dann gehen wir endlich los. Regen und Wind erschweren es mir, motiviert zu laufen. Mein Kumpel erzählt mir unzählige Erlebnisse während seiner Arbeit und dass er Vihti liebt. In meinen Gedanken streiche ich das Wort „Stadt“ aus meinem Vihti-Sprachschatz und ersetze es mit „Ansammlung einiger Häuser“.

„Wie viele kommen denn zum Fest“, frage ich ohne große Erwartungen und als von ihm die Antwort kommt, schlägt mein Herz aus Vorfreude. „Zehn Gäste? Das wird bestimmt richtig toll!“, sage ich und Doğ erklärt mir, dass er lieber wenige Menschen um sich herum hat. Ist ja auch selbsterklärend wenn man aus Istanbul stammt. Oder?
Immer weniger Häuser stehen an dem Weg, den wir nun einschlagen. Endlich erreichen wir das Ziel und ich werde von Tatev, Alina und Lukas begrüßt. Die Küche gefällt mir sofort. Verschiedene Bandposter hängen schief und verkehrt herum an den Wänden. Ein Küchenrollenpaket,   ein Tannenzweig, Weihnachtskugeln und eine Uhr hängen an der Decke.
Schwarze Mülltüten kleben an den Wänden, drei Sessel und etliche Stühle stehen um den Küchentisch herum.
Wir verbringen den restlichen Abend in diesem Hausbereich und reden eine Menge über unsere Erfahrungen. Die vier arbeiten mit Handicap-Menschen zusammen.
An verschiedenen Orten. Es ist faszinierend, wie jeder von uns felsenfest davon überzeugt ist, den besten Arbeitsplatz zu haben.

Nachts teilen Alina und ich uns eine ausgeklappte Couch, deren Kissen sich oft selbstständig machen und ich nachts ständig wieder alle zurecht rücken muss.

Am nächsten Tag feiern wir nicht nur Heiligabend, sondern auch den Geburtstag von Tatev. Mittlerweile sind auch die anderen eingetroffen und wir sind ein bunter Haufen unterschiedlicher Nationen. Drei Türken, eine Armenierin, eine Russin, eine Polin, zwei Deutsche und ein Finne.

Den gesamten Tag verbringen wir wie bei einer typischen Geburtstagsfeier für junge Erwachsene und da sowieso der Schnee fehlt, kommen wir nicht richtig in Weihnachtsstimmung.

Das Radio spielt unentwegt Christmassongs und wir verbringen den Tag mit dem einzigen auffindbaren Kartenspiel „UNO“. Zwischendurch essen wir ziemlich viel. Da ich mir kein weiteres Fettpölsterchen zulegen will und nicht unentwegt mit den UNO-Junkies spielen will, beginne ich mit der Manipulation der Anwesenden, indem ich ihnen unauffällig die Schokoladenteile zu spiele und die anderen diese unbewusst zu sich nehmen. Eine ganze Familienpackung von „Geisha“ kann ich somit auf die Hüften aller anderer Beteiligten bringen und mich selbst davor retten.

Nach Hühnchen und Pommes zum Abendessen, folgt ein riesiger Nutellakuchen, welcher uns alle zur Kapitulation zwingt.
Den nächsten Tag verbringen wir ähnlich, nur essen wir kaum etwas. Braucht man ja auch nicht, wenn andere Dinge zur Verfügung stehen. Etwas verkatert macht ein Teil von uns einen Spaziergang durch die gefrorene Landschaft. „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“, lautet dabei das Motto der Landschaft.

Abends hören wir Weihnachtslieder mit Anti-Weihnachtstexten verschiedener Metal-/Rockbands. Zum Beispiel wird aus "Jingle Bells" ein "Jingle Balls" und in "Oh Christmastree" kreischt nicht nur die Kettensäge. 

Unzählige UNO-Partien später, liege ich endlich wieder auf der Couch und versuche einzuschlafen. Draußen tobt ein sagenhafter Wind und die daraus entstehenden Geräusche, bauen sich automatisch in die Träume vieler Freunde, wie ich später erfahren werde.
Tatsächlich war dieses Weihnachten das beste, welches ich je erlebt habe. Ganz ohne den Geschenkestress, große Kochprozeduren, die gekünstelte Stimmung und alljährlichen Traditionen.

Am nächsten Morgen stehe ich um halb neun auf, weil ich einen der ersten Busse erwischen will. Unten sitzen bereits einige Freiwillige, die das gleiche vorhaben. Mit einem „Hier ist eine Kerze, die wirst du brauchen“, begrüßen sie mich. In der Nacht ist dank des Sturmes ein Baum auf die Stromleitung gefallen. Wer das finnische Stromnetz und deren Aufbau kennt, kann das wunderbar nachvollziehen. In Deutschland sieht man das nur noch ganz selten. Alle paar Meter stehen Holzpfähle an denen oben ein Stromkabel befestigt ist.

Ich dusche in kompletter Dunkelheit mit einem dünnen Wasserstrahl, der mit der Zeit zur Ansammlung einzelner Tropfen wird und trinke kurz darauf einen, auf dem von Holz betriebenen Ofen, erwärmten Tee. Unsere Gespräche werden von Kerzenschein verschönert und handeln nur von dem Stromproblem. Irgendwann fällt mir ein, dass ja nicht nur die Dusche, das warme Wasser und der Kühlschrank nicht mehr funktionieren, sondern auch die Toilette eventuell nicht mehr richtig arbeitet. Wie die anderen das letztendlich auf die Reihe gekriegt haben, weiß ich nicht.

Zu dritt machen wir uns überstürzt auf den Weg zur Bushaltestelle und warten dort im R-Kioski. Während der halben Stunde fällt dort mehrmals der Strom aus und wir sitzen im Dunkeln.
Draußen ist es kalt und immer noch windig. Einzelne Menschen versuchen Vihti genauso zu entkommen, wie wir. Nur kommt der Bus nicht. Irgendwann erfahren wir, dass er durch mehrere umgestürzte Bäume aufgehalten wird. Ich gucke alle paar Sekunden ungeduldig auf mein Handy. Der nächste Bus soll um 11.25 kommen. Mein Zug fährt um 12:52. Mir wird bewusst, wie knapp die Zeit ist und ich ziehe in Erwägung, zu trampen. Der nächste Zug nach Savonlinna würde vier Stunden später fahren. Und ich müsste durch die Nacht zurück zum Opisto laufen.

Endlich kommt der zweite Bus und wir schwingen uns mit eingefrorenen Gliedern hinein. Wenn man es eilig hat, dann geht irgendwie alles schief. Der Busfahrer fährt mit einem Höllentempo über die Dörfer und ich habe das Gefühl, eine alte Person mit Gehwagen würde mich lockerer schneller nach Helsinki bringen. In mir macht sich Verzweiflung breit, es fällt mir schwer mein Schicksal von einer anderen Person am Steuer abhängig zu machen.
An jeder Bushaltestelle stehen wartende Menschen und jeden Einzelnen sammeln wir ein.
Endlich gebe ich auf. Dann komme ich halt zu spät an und warte in Helsinki mit geschlossenen Läden und knurrenden Magen auf den nächsten Zug. Sind ja nur vier Stunden. Ich wende mich zu meinen Freunden und sage zu ihnen, dass es echt großartig wäre, würde der Zug wegen irgendwelcher Probleme verspätet abfahren. Einer von ihnen weist mich darauf hin, dass ich damit lieber nicht rechnen sollte.

Auf einmal hält der Fahrer an und eine Dame sagt, wir sollten jetzt den Bus wechseln,weil dieser angeblich 10 Minuten schneller in der Hauptstadt ankommen wird, als der erste. Tatsächlich fährt der neue Busfahrer so schnell, dass er auf der Autobahn etliche Autos überholen kann und ich überraschend 20 Minuten Zeit habe, um meine Fahrkarte zu kaufen und mich in den Zug zu setzen.
Doch wo ist der Freund, mit dem ich zusammen von Helsinki nach Savonlinna fahren wollte? Wir hatten uns verabredet. Nur noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Ich rufe ihn von dem Zug aus an und wir versuchen mit unserem kaum vorhandenen finnischen Reise-Vokabular, welches wir dringend verbessern sollten, uns zu beschreiben wo wir sind.

Während ich sage, ich befände mich in Nummer Fünf, versucht er mir klar zu machen, dass er sich auch dort befände. Mehrmals gehe ich durch das Abteil. Ich finde ihn nicht. Wieder  frage ich ihn „im Zug nach Joensuu?“ und er bejaht das. Es ist mittlerweile ein Uhr und der Zug steht immer noch. Endlich wird mir bewusst, wo das Missverständnis liegt. Er spricht vom Gleis Nummer Fünf und ich vom Waggon. Gerade noch rechtzeitig können wir das klären und er rennt zum richtigen Zug.
Zwanzig Minuten nach der von Adrenalin begleiteten Suche, entschuldigt sich der Schaffner für die Unannehmlichkeiten, allerdings gäbe es technische Probleme, die durch den nächtlichen Sturm verursacht worden waren.
Ich glaube durch dieses Erlebnis, dass es so etwas wie Schicksal gibt. Und ich zuerst aufgeben und mich dem Geschehen hingeben muss, damit alles seinen Lauf nehmen kann. Letztendlich hatte ich unendlich viel Glück oder ein mich liebendes Schicksal, denn wäre der Zug pünktlich abgefahren, wäre mein Kumpel woanders hingefahren. Er hatte nicht mitgekriegt, dass das Gleis spontan verlegt wurde. Ist auch problematisch, wenn man kaum finnisch oder englisch spricht.
Auf halber Strecke verwandelt sich der Expresszug in einen Intercityzug- das habe ich meinen Lebtag noch nie erlebt.
Die Toilette hat ein Pedal mit dem man die Spülung betätigt, indem man drauf tritt. Ich war kaum überrascht, als der Zug auf einmal eine Notbremsung betätigte und wir im Nichts stehen blieben. Zum Glück nur zehn Minuten. Vielleicht hat ein Finne nur seinen Ausstieg verpasst.


In einer SMS von den in Vihti gebliebenen Freunden erfahre ich, dass der Strom noch immer nicht funktioniert und sie den gesamten Tag schlafend verbracht haben.
Abends um zwanzig Uhr komme ich endlich im Opisto an und stehe vor einem leeren Kühlschrank. Nicht so schlimm, sage ich mir und lege mich später schlafen.

Montag, 19. Dezember 2011

Yeah!

In den letzten beiden Wochen hatte ich enormen Stress. Vormittags finnisch lernen, nachmittags unzählige Band- und Chorproben. Abends Chorauftritte. Einmal fuhren wir in ein Dorf und sangen für zwanzig ältere Menschen die finnischen Weihnachtslieder. Bei jedem der Auftritte wurde eine Tombola veranstaltet. Eigentlich gewinne ich nur ziemlich selten etwas, dieses Mal hatte ich eine Menge Glück. Ich gewann Schokolade und Kerzen – einfach nur großartig. Mir wird gerade bewusst, wie weit ich mich in den vier Monaten entwickelt habe. Bis vor kurzem konnte ich nicht vor Fremden Piano spielen. Gestern hatten wir einen Bandauftritt bei der Weihnachtsshow und ich habe vor 200 Zuschauern gespielt und sogar gesungen.  Ich bin unglaublich zufrieden mit mir. Auch weil ich die finnische Sprache immer mehr beherrsche und sogar schon richtige Texte schreiben kann. Außerdem habe ich in jeder Weihnachtsshow meine Solostrophe von „Stille Nacht, heilige Nacht“ gehabt. Dadurch, dass ich ständig ins kalte Wasser geworfen werde, wachse ich im hohen Tempo über mich hinaus.
Wenn ich vor anderen Menschen spreche, bin ich absolut nicht mehr nervös, obwohl ich viele Fehler in der für mich neuen Sprache mache. Das freiwillige Jahr zeigt mir, wo meine Stärken liegen, nur meine Schwächen schwinden so dahin. Früher habe ich eher meine Probleme und Macken gezeigt, jetzt zeige ich viel mehr, was in mir steckt.
Daraus resultiert allerdings, dass ich nicht mehr weiß, was ich nach dem FSJ machen soll. Vorher kannte ich nur einen kleinen Teil meiner Fähigkeiten und das schränkte die Möglichkeiten ungemein ein. Nun interessiert mich unzähliges. Hoffentlich geht die Entwicklung in dem nächsten halben Jahr noch verstärkt weiter.
Ich empfehle jedem, der sich in einer „Wer bin ich eigentlich?“-Phase befindet, ähnliches zu tun. Das bekannte Umfeld für eine Weile zu verlassen und irgendwo ganz neu anzufangen. Ein halbes oder sogar ganzes Jahr lang.
Natürlich weiß ich, dass nicht jeder so eine Veränderung durchmacht. Hierbei kommt es wirklich darauf an, einen Weg zu finden, sich selbst ausprobieren zu können und Menschen zu haben, die einem das ermöglichen oder darin bestärken. Ich habe hier keinen, der mir sagt: „Das kannst du nicht. Lass das lieber.“ Im Gegenteil. Viele sind sogar sehr interessiert indem was ich ausprobiere.
Ich hab zwar kaum finnische Freunde, dafür jedoch unzählige aus anderen Ländern und Kulturen. Ich spreche zwar kein umgangssprachliches, dafür das schriftliche und grammatisch korrekte Finnisch. Tango kann ich immer noch nicht tanzen, dafür kenne ich unzählige finnische Weihnachtslieder und kann die singen. Das Nordlicht habe ich auch nicht gesehen, dafür sprang ich jeden Monat mehrmals nach der Sauna in den See – selbst im Dezember und trotz des vereisten Stegs. Finnland ist zwar unendlich langweilig, besonders wenn man weit entfernt von der nächsten Großstadt lebt, dafür habe ich allerdings bereits unzählige Filme gesehen – überwiegend Horror- und Actionfilme, die ich in Deutschland eher nicht angeguckt hätte.
Es gibt viele Vor- und Nachteile. Ich wüsste schon gerne, wie ich das Leben in einer asiatischen oder afrikanischen Kultur gemeistert hätte und würde das am liebsten nach diesem Jahr ausprobieren. Allerdings habe ich bis heute hier in Finnland etliche Erfahrungen gemacht und kann endlich ein bisschen stolz auf mich sein.  

Freitag, 16. Dezember 2011

Fazit

Wir schreiben den 16. Dezember 2012.
Das Selbstexperiment „internetfreies Leben“ wurde vorerst unterbrochen. Nach einer einwöchigen Beobachtung der Versuchsperson wurde festgestellt, eine weitere Durchführung des Tests könnte erhebliche psychische sowie auch physische Schäden hinterlassen. Bereits wenige Stunden nach der unterbrochenen Internetverbindung, konnte ein durchaus seltsames, jedoch typisches Verhalten beobachtet werden. Besagte Person öffnete alle paar Minuten die Systemsteuerung des Computers und probierte mit dem vorhandenen Wissen und einigen logischen Überlegungen das Internet am Laptop zu reparieren. Nach einigen Versuchen begriff sie (die Testperson), dass sämtliche Treiber und andere mögliche Problematiken nichts mit dem Hauptproblem zu tun hatten.
Die darauffolgende Konsequenz bestand daraus, dass das Versuchsobjekt morgens 20 Minuten früher auf stand, um im Computerraum der Schule ihr Defizit decken. Auf Bitten anderer, doch endlich Platz zu machen, reagierte sie leicht gereizt, jedoch mehr mit einem Ton, der an ein kleines Kind erinnert, welches unbedingt ein Eis haben oder noch nicht ins Bett gehen will.
An den darauf folgenden Tagen machte die Versuchsperson allerdings eine interessante Entwicklung durch. Sie begann ihr Defizit anders zu füllen, indem sie täglich unzählige Überstunden machte und abends erst sehr spät in ihr Zimmer ging.
Weitere Veränderungen: lautes Jammern, tiefe Augenringe (aufgrund der Überstunden und des früheren Aufstehens), leises Jammern, lautes Äußern von „Langeweile“, vermehrtes Lesen von Büchern und Zeitschriften jeglicher Sprachen, häufiges Backen von Keksen (sehr zur Freude anderer Menschen, die davon profitierten).

Vorläufiges Fazit: Ob die Testperson eine gute oder negative Entwicklung erlebt hat, kann noch nicht beurteilt werden. Immerhin war es erstmals ein kleiner Erfolg, schließlich profitierten davon andere Personen.

Sonntag, 11. Dezember 2011

am Rande

Letzten Donnerstag habe ich mich ganz kurz gefragt, was ich ohne Internet am Wochenende machen würde. Klar kommt es echt auf das Alter an, aber ich beziehe mich mal damit auf die typische Facebookfraktion. Wie viele Bücher liegen bei euch noch herum, die ihr eigentlich schon lange mal angefangen haben wolltet? Wie viel hättet ihr wohl schon für die nächste Prüfung gelernt, wäre das Internet euch nicht in die Quere gekommen? Während sich bei euch der Staub auf dem Schreibtisch sammelt, das Essen auf dem Teller vertrocknet und der Hund neben euch bereits die vierte Leine gelegt hat und in mehrfachen Verkreuzungen der beiden Hinterbeine nur noch jämmerliche letzte Quietsch- und Seufztöne von sich gibt, sitzt ihr nur mal kurz „fünf Minuten“ am Computer und guckt bereits zum siebzehnten Mal, in dieser Stunde, nach ob euch eine neue Nachricht erreicht hat.
Da ich hier in Savonlinna zu dieser Zeit nahezu nichts machen kann, kam ich zu dem Entschluss, dass ein Wochenende ohne Internet und andere Beschäftigungen, die es hier ohnehin nicht gibt, ein Weltuntergang oder zumindest ein Fiasko wäre.
Tja, ich wurde besserem belehrt. Gleich am Freitagmorgen leuchtete ein Zeichen auf, als ich den Laptop hoch gefahren hatte. Internet.. irgendetwas stimmt mit dem Router nicht. Doch der ist leider in einem Raum in einem anderen Haus eingesperrt, sodass ich da nicht mal kurz dran käme.
Mir blieb die Hoffnung, dass sich das mit der Zeit von selbst auflöste. Die Zeit ging um, änderte allerdings absolut nichts.
Immerhin hatte ich endlich eine Gelegenheit einen Spaziergang durch die nächtliche Schneelandschaft zu machen, ein Buch und eine Zeitschrift durchzulesen. Mehrere Filme zum wiederholten Male anzugucken. Zwei Stunden nur auf dem Bett zu liegen und Musik zu hören. Mein Zimmer gründlich aufzuräumen. Jetzt ist Sonntagmorgen. Immer noch keine Veränderungen.
Das Wochenende war jetzt allerdings nicht ganz ohne Internet, zum Glück funktionierte es in der Sc
Meine Feststellung ist jedoch, alle Menschen die wie ich gerne jeden Abend den sie alleine zu Hause verbringen und ihn im Netz vertrödeln, sind verdammt arm dran.
Wir verpassen das Leben, das richtige genussvolle Leben. Statt uns an den Herd zu stellen und uns etwas ganz leckeres mit stundenlanger Zubereitung zu kochen, tut es eine Pizza oder ein Fertiggericht. Es gibt ja noch eine Stufe schlimmer Betroffene, diejenigen die selbst beim Ausgehen stets posten müssen, wo, mit wem und warum sie irgendwo sind. Toll.

Klar, niemand will zugeben, dass er vom Internet abhängig ist. Aber ist es nicht ganz einfach festzustellen? Wann hast du das letzte Mal abends den Laptop nur zum Musik hören benutzt und dich hingesetzt, um nur etwas wie zum Beispiel ein Buch zu lesen? Wie oft wanderten dabei deine Gedanken an deinen Nachrichtenaccount?
Ich glaube, um diese freien Abende erleben zu können, muss das Internet ausfallen. Obwohl viele Menschen dann ihren Tag damit verbringen, irgendwie das Internet wiederzubeleben, anstatt sich die Zeit anders zu nutze zu machen. Traurig, aber wahr.
Den größten Gefallen, den man seinen Kindern machen kann, ist ihnen erst ab dem Alter von 16 einen eigenen Computer zu erlauben und vorher stets darauf zu achten, dass die Kleinen nur eine Stunde am Tag daran sitzen. Langeweile macht kreativ. Wie viel Zeit haben wir früher im Wald und auf den Wiesen verbracht? Heute erlebe ich das nur, wenn ich mit den Pfadfindern ohne Handys und Laptops wandern gehe. Diese Auszeiten heilen die Seele.

Nachrichten kann man ja auch in der Zeitung lesen, am nächsten Tag. Oder einfach das Radio anschalten. Filme gibt es in den aussterbenden Videotheken. Zur nächsten Party kann man Freunde per Brief oder Anruf einladen, ist doch ohnehin viel persönlicher und schöner. Außerdem hat heutzutage nahezu jeder eine Telefonflatrate. Bücher fühlen sich viel schöner in der Hand an und lassen sich besser lesen, als die Texte im Internet. Wie viele Spiele stehen seit Jahren unberührt im Schrank? Warum müssen wir stets erreichbar sein? Würde es sich um etwas dringendes handeln, könnte die andere Person doch auch kurz anrufen.

Ist es nicht amüsant, dass viele mit „ich mache gerade nichts“ antworten, wenn sie mit anderen chatten und danach gefragt werden? Nichts. Unter nichts versteht man im Internet herum zu surfen und Musik zu hören. Mittlerweile fragt kaum einer mehr, was man am letzten Abend gemacht hat. Als Antwort käme sowieso nur ein „Nichts“ oder „das Übliche“. Wäre es nicht toller, mit einem „Hab meine Lieblings-CD gehört, die ich in den tiefen meines Regals wiedergefunden habe und dabei das Buch gelesen, das du mir neulich empfohlen hast.“ antworten zu können? Daraufhin ergäbe sich dann sogar höchstwahrscheinlich ein interessantes Gespräch über die Musik oder den Roman. Auf „Nichts“ kann man schließlich kaum etwas anderes als „ich auch“ erwidern.
Ich gebe zu, ich beneide jeden, der nicht täglich ins Internet geht. Statt zu chatten, würde ich auch gerne wieder viel mehr Briefe oder Emails schreiben und lesen.

Zum Abschluss würde ich gerne sagen, dass ich mich nun ändern und nur alle paar Tage ins Netz gehen werde. Doch das wäre sicherlich gelogen.
Das einzige was ich für mich daraus ziehen kann, ist dass ich versuchen werde, etwas weniger online zu gehen. Mir etwas bewusster mache, wie viel Zeit ich damit verplempere und meine Prioritäten langsam ändern werde. Vielleicht. Hoffentlich.   

Sonntag, 4. Dezember 2011

finnische Nacht

Es ist noch ziemlich dunkel draußen als ich aufwache. Verschlafen setze ich mich auf, gucke zum Fenster und stelle fest, dass ich ziemlich hungrig bin. Mein Magen knurrt als hätte er vor zwei Tagen das letzte Mal etwas zu verarbeiten gehabt.
Schlaftrunken suche ich nach meinen Hausschuhen, irgendwo in der Nähe des Bettes hatte ich sie doch abgestellt, hoffe ich mich richtig zu erinnern.

Endlich finde ich sie, stehe auf und schleiche mich die Treppe hinunter. Versuche ich zumindest.
Die Hausschuhe sind zu breit und zu groß. Jeder Schritt klingt nach dem eines Elefanten.
Beinahe stoße ich mit meinem Kopf gegen das abgesenkte Deckenstück ganz unten am Ende der Treppe. Gerade noch mal gut gegangen, denke ich mir und bewege mich in die Küche. Während der Wasserkocher mir das Leitungswasser erhitzt, welches ich später mit einem Teebeutel bekömmlicher machen werde, suche ich im Kühlschrank nach einer brauchbaren Mahlzeit.

In diesem Moment erinnere ich mich an meinen Vater, der fast jede Nacht zur gleichen Uhrzeit vor dem Kühlschrank aufzufinden ist – stets in der Hand ein Jogurt - halb schlafwandelnd und in den Fängen des Gewohnheitstieres gefangen.

 Ich mag diese Milchprodukte allerdings nicht, deswegen muss ich mich mit etwas anderem begnügen. Ein Stück Gurke wird es tun, entscheide ich mich. Der Teebeutel färbt kurz darauf das Wasser in meiner Tasse rot. Rot. Weihnachten, ja das steht ja kurz vor der Tür. Mit ihm kommt nicht nur der Schnee, sondern auch die besinnliche und friedvolle Stimmung. Zumindest in christlichen und kriegfreien Ländern - und in den Haushalten, in denen niemand dem Geschenkekaufstress unterliegt.

Auf das Fest der Feste bin ich nicht wirklich vorbereitet, zwar singen wir hier ständig Weihnachtslieder, die ich echt nicht mehr hören, geschweige denn singen kann. Im Festsaal steht sogar ein riesiger Weihnachtsbaum, der einem Kinderbuch entsprungen sein könnte. Engel- und Weihnachtsmannfiguren dekorien Wände, Tische und Weihnachtssterne, also die Pflanzen, stehen überall herum. Bevor ich nach Finnland kam, wusste ich zwar dass der Weihnachtsmann hier aus der Nähe stammte, allerdings habe ich nicht einmal daran gedacht, wie Finnen zu der Dezemberzeit agieren.

Wohl möglich herrscht hier im Opisto ein Ausnahmestand und nicht jeder finnische Haushalt ist genauso. Ich weiß es nicht. Ich könnte es mir jedoch richtig gut vorstellen. Täglich spielt ein CD-Player Weihnachtsmusik, häufig singen schiefe Kinderstimmen die Texte hinunter, als würden sie sonst die Rute und Kartoffeln zu Weihnachten bekommen. Apropos, so langsam verstehe ich, warum Kindern die Rute und ja besonders Kartoffeln angedroht werden. Diese fragwürdige Tradition zum Bravmachen aller Kinder, stammt gewiss aus Finnland. Aus dem Land der täglichen Kartoffelmahlzeiten.

Doch ich möchte ganz ehrlich zu geben, würde ich hier leben und Kinder haben, wahrscheinlich täte ich es genauso. Statt der stillen Treppe und Stubenarrest drohe ich den lieben Rotzbengeln die Erdknollen zu Weihnachten und ihren Geburtstagen an. Da stellt sich nur eine Frage, ob das als Erziehungsmaßnahme vertretbar ist oder ob ein Gesetz veranlasst, jeden Verfechter dieser Methode hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Zum Glück habe ich momentan keine Kinder (in Planung) und muss mich mit dieser Frage noch nicht großartig auseinander setzen.

Nun gut, ich trinke meinen Tee und erklimme die Treppe, bewege mich in Richtung meines Bettes und lege mich hinein. Mein Rücken schmerzt von der durch gelegenen Matratze, auf der zuvor mindestens tausend Menschen geschlafen haben. Die dünne Decke ziehe ich mir bis zum Kinn, schließe die Augen und versuche mir so etwas wie imaginäre hüpfende Schäfchen vorzustellen, ihre wolligen Rücken wunderschön mit Zahlen verziert. 
Und ich schlafe ein.

Ungefähr zwei Minuten später wache ich wieder auf. Es hat nicht geklappt. Die Schäfchen gingen mir mit ihrem Gehüpfe auf die Nerven, sie machten mich damit ganz nervös.
Was macht man denn, wenn man mitten in der Nacht aufwacht und nicht mehr schlafen kann?
Mein Handy leuchtet auf einmal auf, irgendjemand ruft an. Bestimmt ein betrunkener Student, der sich genauso langweilt. Hey, das wäre doch eine gute Beschäftigung. Mitten in der Nacht einen Spaziergang mit einigen Leuten machen. Es schneit und alles ist ruhig.
 Ich greife zu dem Handy und werde prompt gefragt, wo ich denn bliebe.
Wie? Was? Ich liege im Bett, antworte ich und unterdrücke ein Gähnen.
 „Um 16 Uhr? Das ist doch viel zu früh!“

Mittwoch, 30. November 2011

wonderbra!

An vielen Orten der Welt beginnen allmählich die Weihnachtsvorbereitungen. Doch für mich sieht es dieses Jahr etwas weniger weihnachtlich aus, da ich immer noch nicht genau weiß, wo ich das Freudenfest verbringen soll. Entweder bei und mit anderen Freiwilligen oder bei einer finnischen Familie.
Noch dazu schmilzt der Schnee fröhlich vor sich hin und hinterlässt nicht nur Pfützen im Boden, sondern eine niedergeschlagene Stimmung. Ich dachte, der finnische Winter sei lang. Aber hier hielt er sich nur drei Tage auf. Immerhin kann jetzt der Sommer kommen! Wird auch Zeit, täglich kommt die Dunkelheit früher, mittlerweile beginnt sie kurz nach drei Uhr.
Dank der antiweihnachtlichen Stimmung überraschte es mich, als auf mich ein Paket wartete. Laura stand als Absender. Jaja, ich die immer andere darauf aufmerksam macht, dass man sich mal wieder bei alten Kontakten melden sollte, hat ein ziemlich großes Present aus der Heimat bekommen. Unter den erwartungsvollen Blicken anderer Studenten, öffnete ich es und fühlte mich wie zu Weihnachten. Ein selbstgemachter Adventskalender war darin. Für jeden Tag eine Kleinigkeit.
Mich durchströmte ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Vielen Dank an meinen Pfadfinderstamm! Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken kann! Und ich habe es schon immer gewusst, Pfadfinder sind die besten Freunde und Menschen der Welt!
Danke, danke, danke! Ich bin schon richtig gespannt, was mich da ab morgen erwartet. Wonderbra!

Dienstag, 22. November 2011

Man weiß vieles erst zu schätzen, wenn man es vermisst...

Grinsend blickt er mich an, „Naaaa...!?“, dachte ich mir. So einen süßen Kerl sah frau nicht alle Tage. Mein Herz schlug ein wenig höher und ich lächelte verlegen zurück. Dann wandte ich mich wieder meinem Buch zu, wenn ich etwas nicht an mir ausstehen kann, dann dass ich Bücher viel zu schnell durchlese. Vorsichtig lugte ich noch einmal über den Rand des Buches und stellte fest, er starrte mich weiterhin lächelnd an. Während nur noch achtzig Seiten und drei Zugfahrstunden vor mir lagen, lenkte mich immer wieder das schnuckelige Kerlchen vom Lesen ab. Er lächelte schief, aber durchaus charmant. „Wie schnell kann man sich verlieben?“, kam mir in den Sinn und dieses Mal war ich mir sicher, handelte es sich um Liebe auf den ersten Blick.
Seine Augen waren so klar und die Art mit welchem sichtbaren Interesse er in meine sah, berührte mich tief im Herzen. Warum tat das nicht jeder tolle Typ so? So aufgeschlossen, so ehrlich zu seinem Interesse stehend und diese nicht aus Scham hinter einer Fassade der Coolness versteckend? Unsere Blicke trafen sich noch etliche Male, immer wieder füllte sich mein Herz dabei mit Glückseligkeit. Mich irritierte nur eine Sache und zwar seine Art, wie er während des Lächeln und Guckens mit dem Finger an seiner Zunge herum spielte.
Doch vielleicht war das nur eine typisch finnische Angewohnheit von Kerlen seinen Alters. Außerdem machen Macken den Menschen nicht erst zu einer besonders liebenswerten Person? Auf jeden Fall war ich mir sicher, diese Eigenheit würde ich widerstandslos verzeihen, sobald er auch nur ein einziges Mal in meinen Armen läge. Der Kerl war ein Mädchenherzensbrecher wie er im Buche steht. Ich glaube, keine des weiblichen Geschlechts, könnte ihm widerstehen. Seine reine Haut, der gute Kleidungsstil, die Augen und das charmante Lächeln, das ich an Männern so unwiderstehlich und zum Verlieben finde, all das vereinte er.
Doch es kam, wie es kommen musste. Nach zwei wunderbaren Stunden, die für mich nur so verflogen, stand seine weibliche Begleitung auf und trug ihn mitsamt seines Kinderwagens fort – aus dem Zug auf den Bahnsteig, in die Dunkelheit und Kälte. Traurig blieb ich zurück und fuhr weiter gen Zuhause.

Woher ich kam? Sehr gute Frage.
Gestern wachte ich mit dem Gedanken auf: „DAS kann doch jetzt doch nicht schon halb acht sein!“ und schwang mich absolut unmotiviert auf den Drahtesel. Vorsichtshalber habe ich mich ziemlich dick angezogen. Mit langärmeligem Oberteil, einem Wollpulli, Leggins, Jeans, langen Wollsocken, einer Winterjacke, Armstulpen, Wollhandschuhen, Wollmütze und Schuhen bewege ich mich vorsichtig zum Bahnhof. Ich fahre vorbei an dem vereisten Schnee und fühle mich wie ein fetter Kleidungsklotz, der grobmotorisch unter dem zum bemitleidenen ächzenden Fahrrad versucht vorwärts zu kommen. Wie soll dass denn erst werden, wenn es noch dreißig Grad kälter ist?
Schneeflocken erschweren mir die Sicht und ich versuche nicht an die frierenden Fußzehen zu denken, die zu schmerzen beginnen.
Pünktlich zum Winterbeginn am 21.11.11 schneit es. Wer hätte das denn auch anders erwartet?
Mein genervtes „ICH!“ wird auf diese Frage hin anscheinend bewusst ignoriert.
Ziemlich schnell füllt sich der Bahnsteig, oder sollte ich eher das leere Gleis mit dem Betonweg daneben, sagen? Manche nehmen Abschied voneinander, andere stehen in stylisch dreckigen Regenstiefeln und ähnlicher Kleidungsausrüstung grummelig da und warten auf den Zug. Im Gegenteil zur Deutschen Bahn, kommt der Zug trotz des Schnees pünktlich. Ungern denke ich an den letzten Dezember zurück, an dem ich zwei Stunden frierend, hungernd und müde im Spandauer Bahnhof verweilen durfte, nur weil der ICE eine unbestimmte Verspätungszeit hatte. Ist ja auch echt überraschend, dass in Deutschland manchmal Schnee fällt. Besonders im Winter überrumpelt dieses Ereignis die DB immer wieder. So heftig war der Klimawandel bisher noch nicht, dass es keinen Schnee mehr im Winter gibt, aber das scheinen die noch immer nicht kapiert zu haben.
Der Zug kommt und ich fühle mich den anderen nach Darwin'scher Evolutionsheorie „Survival of the fittest“ überlegen. Die Stufen sind nämlich nur für Menschen gemacht, deren Beine lang sind. Würde es hier ums Überleben gehen, okay so gesehen ging es das in diesem Falle, wäre ich eine der wenigen, die nicht zu Grunde gehen würde. An meine pfadfinderischen Tugenden erinnert, helfe ich trotzdem einer auf finnisch fluchenden älteren Dame nach oben.

Die Zugfahrt dauert insgesamt vier Stunden und acht Minuten. Zwischendurch steige ich in einen Intercity um und stelle dort überrascht fest, dass es auf den Toiletten auch ein Töpfchen für Kleinkinder gibt. Sogar zum Aufwärmen von Babynahrung oder -Milch, so gut kenne ich mich auf dem Gebiet zum Glück noch nicht aus, steht da ein Gerät herum.
Einige Stunden später treffe ich im verregneten Helsinki endlich auf eine befreundete deutsche Freiwillige, bei derer Gastfamilie ich übernachte. Ihre Gastschwester schafft es tatsächlich mich trotz aller Müdigkeit zum Seilspringen und Bewegen zu kriegen. Später schenkte sie mir noch ein Armband, das fand ich richtig genial - ich war verblüfft darüber und bin etwas verlegen deswegen.
Am nächsten Tag fuhren Antje und ich in ein Studio, indem wir deutsche Texte ins Mikro sprachen und diese für die schulischen Deutschprüfungen aufgenommen wurden. Das zu erleben, war echt großartig und tat mir ziemlich gut. Ich meine, bald hören unzählige finnische Schüler meine Stimme und dürfen dazu Fragen beantworten.
Wenig später guckten wir beide noch in dem Büro unserer finnischen Organisation vorbei und erzählten Mari von unseren Arbeiten, Erlebnissen, positiven sowie auch negativen Dingen und ich genoss es, bekannte Gesichter wiederzusehen und herauszufinden, dass ich tatsächlich einen Traumjob abbekommen habe.
Auf der Rückreise, traf ich in der letzten Bahn auf mehrere finnische Damen, die mir unzählige Fragen stellten und bis zum Ende haben die, glaube ich, nicht heraus gefunden, dass ich nicht so gut finnisch sprechen kann. Ich bin echt stolz darauf, dass ich ihre Fragen beantworten konnte, drei Monate zuvor hätte ich das nicht ansatzweise bewerkstelligen können.
Kaum zu glauben, wie glücklich ich diese beiden Tage lang war. Mit einer Gleichaltrigen und der gleichen Muttersprache reden zu können, das hat mir sehr gefehlt. Auch der Einblick in eine hauptsächlich auf englisch kommunizierende finnische Gastfamilie zu bekommen und die spannende Studioaufnahme, waren die Reise wert.
Zurück bleiben mir wunderbare Erinnerungen (wie zum Beispiel an das süße Kerlchen in der Bahn, wäre er doch bloß 19 Jahre älter gewesen), ein riesiger Haufen neuer Erkenntnisse, sowie ein Kopfmassageteil, mit dem ich mir jetzt endlich selbst immer etwas Gutes tun kann.
Zu meinem sagenhaften Glück, standen überraschenderweise auf mich wartend, zwei großartige Studenten am Bahnhof, die mich in ein Auto warfen und durch die frostige und verschneite savonlinnasche Stadt Richtung Zuhause - meinem Zuhause, welches ich bereits sehnsüchtig vermisst hatte, fuhren.
Endlich bin ich wieder zurück, dort wo meine vier Wände und großartige Menschen auf mich warteten.

Donnerstag, 17. November 2011

es lebt!

Liebster Blogleser,
heute gab es für mich zum Mittagessen Reis mit Kartoffelpüree und, ja ich gebe es zu, Ketchup. Mit diesem Tomatenzuckerzeug schmeckt mir aber auch beinahe alles. Wohl möglich würde ich damit eventuell auch Milchreis hinunter kriegen. Allerdings passen die Geschmacksnuancen von dem Ketchup und Zimt-Milch-Würgkram nicht so gut zusammen, sodass ich mit dem gleichen Ergebnis wie auch ohne den Zusatz dieser Tomatensoße, das Werk vollenden oder eher wiederverwerten und aus meinem Körper entfernen würde. Warum schweife ich eigentlich ständig so sehr ab?
Ich bin gerade ein wenig entmotiviert und das erkennt man wonderbra leicht daran, dass ich andere dazu verdamme, neue Wortschöpfungen zu lesen. Pardon!
Eben wollte ich meine Band starten, jedoch klappt nichts. Weder die faulen Studenten bewegen ihren Allerwertesten in die Richtung des Treffpunktes, noch kriege ich überhaupt eine Absage zu hören. Nicht eine einzige. Wie sollen wir bis Weihnachten das EINE Lied „Imagine“ auf die Beine stellen? Ich glaube noch an Wunder. Und das werde ich wahrscheinlich noch öfter tun müssen. Zu meinem Entsetzen kennen nämlich die Leute von außerhalb Europas die Beatles nicht. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe es mir zum Ziel gesetzt, diese Bildungslücke zu schließen, großes Interesse daran zeigen die Kerlchen daran allerdings nicht. Püüüh! Die wissen gar nicht, was sie verpassen.

Das finnische Land geht langsam in die kalte Jahreszeit über. Das bedeutet, Bäume und Gräser gefrieren, Ricas jammern darüber wie kalt es doch trotz Wollpullover sei, es wird immer mehr Tee getrunken und die Heizung bleibt über Nacht an. Wie soll ich das bloß im Hochwinter aushalten? Noch ist es nicht ansatzweise so kalt, wie am Ende des nächsten Monat. Ich mache mir einfach heiße Gedanken (Spanien, Sonne, Strand und Meer).

Ich habe einen Wunsch, nur einen einzigen an dich. Kannst du mir unten als Kommentar eine Sache schreiben, über die ich mal berichten soll? Es darf jedes Thema sein, ob Experiment, Gedicht, Satire oder sonst etwas! Vielen Dank im Voraus! Die Prozedur dauert wirklich nur eine halbe Minute! Außer du schreibst langsam...

Liebe Grüße von der hochmotivierten Rica,
gleich wird es schon wieder dunkel und es wird Schlafenszeit. Tatsächlich ist es mir möglich den kompletten Tag zu schlafen. Einfach morgens aufwachen, rausgucken, feststellen dass es noch dunkel ist, weiter schlafen und das den ganzen Tag lang - richtig hell ist es so um 13 Uhr, über diese Zeit muss man hinweg schlafen und ab da denkt man, dass es immer noch zu früh ist.
Ist das nicht ein romantischer Gedanke? So schön um 12 Uhr am See zu sitzen und den Sonnenaufgang anzugucken, dann zwei Stunden lang dort das Wasser beobachten, bis um 14 Uhr die Sonne wieder untergeht?
Man muss nicht einmal früh aufstehen, um die atemberaubende Schönheit der Natur zu beobachten. Der Winter hat wirklich etwas an sich.

Bevor ich dir noch weitere Lebenszeit raube, schwinge ich mich aus dem Internet und wünsche dir einen wunderschönen Tag beziehungsweise Abend.
Bald werde ich hoffentlich wieder mit aufregenderen Texten wiederkehren.

Mittwoch, 9. November 2011

Gedankenwirrwarr

„Hey, minun blablabla on rikki! Voitko autan minulle?“ (Hey, mein Fahrrad ist kaputt! Kannst du mir helfen?“
Ich kriege ein fettes Grinsen, welches ich im Übrigen in den letzten Tagen etwas mehr als häufiger zu Gesicht bekommen habe, als Antwort.
In einem rasenden Tempo schleicht er hinter mir her. Er ist ein Hausmeisterlehrling oder so in der Art, habe bei der Erklärung damals nicht so genau zugehört.
 Außerdem würde ich ungefähr dreimal in ihn hinein passen, neben ihm wirke ich wie eine zierliche Puppe.
Mit einem Lächeln überspiele ich meinen Drang panisch zu werden – sechs Kilometer mit den unzähligen Bergen liegen vor mir und die Zeit, welche ich dafür habe, rinnt fröhlich vor sich dahin. „Na super“, denke ich mir. „noch 40 Minuten, dann muss ich da antanzen.“

Ich wende mich zu meinem neuen besten Freund und hauche ihm ein leicht verzweifeltes (okay, es war etwas mehr als nur leicht) „Minä täytyn työdä kello yhdeksän.“ - theoretisch soll das so viel wie „Um 9 Uhr beginnt meine Arbeit“ heißen. Ob er das genauso verstanden hat, steht in den Sternen. Würde jedoch so einiges der folgenden Ereignisse erklären. Denn er wird nicht ansatzweise schneller, noch nicht einmal der Wille danach ist erkennbar. Kenia fällt mir dazu ein. Ganz entspannt schlurft er hinter mir her, so manches Mal bleibt er einfach stehen und unterhält sich mit einem Studenten. Weswegen war ich nochmal in Finnland? Ach ja, ich sollte etwas lernen.

Und ich lerne. Ich lerne, dass man hier anscheinend alle Zeit der Welt hat und obwohl mein Wannabe-Retter in spe noch in aller Ruhe zwei Studenten eine Werkstatt öffnet und ihnen Besen in die Hand drückt, danach entspannt die Tür wieder abschließt und dann für eine gefühlte Ewigkeit in der Fahrradwerkstatt abtaucht, kurz darauf mit Werkzeug wieder auftaucht, meinen Fahrradreifen an die richtige Stelle bugsiert, ein paar wohlgemeinte Wissensdinge über das Reparieren des Drahtesels gibt (die mich absolut nicht unter diesen Umständen interessierten) und mich dann nach einer kurzen Probefahrt endlich entlässt, ich mich auf das Rad schwinge, mit Mühe in die Pedalen trete und die Berg und Tal- Fahrt schwitzend und frierend zugleich hinter mich bringe, schaffe ich es genau drei Minuten vor Schulanfang anzukommen.

Kann mir das jemand erklären? Ich mir nicht. Überhaupt nicht. Irgendetwas ist falsch gelaufen, wirklich schnell bin ich nämlich nicht gefahren. Geht auch nicht, weil ich ein wenig kränkle und meine Beine von dem vielen Radfahren schmerzen.

Trotzdem gibt es ein Erfolgserlebnis zu verzeichnen. Auf dem Rückweg konnte ich ihn, den Berg aller Berge – Dad und Fred wissen garantiert was gemeint ist – bezwingen. Ich bin tatsächlich mit dem Drahtesel, der mich gerne mal im Stich lässt, den steilen Hügel hoch geradelt. Als ich oben war, hatte ich zwar das Gefühl, nie wieder im Leben atmen zu können, aber ich habe ihn bezwungen! Und das alles nur um mich an dem verdammten Fahrrad zu rächen.
Boah! Wenn es noch einmal kaputt geht, repariere ich es selbst.
Oder ich stürze mich mit dem Teil in den See und sterbe. Beides käme aufs Gleiche hinaus.

So ging es mir heute Morgen.
Der Drecksesel war zu seinem Glück nicht kaputt und das sehr zum Bedauern meines Fahrrad-Reperateurs, der gewiss schon alle Werkzeuge parat gelegt hatte. Allerdings bin ich erfroren. Minusgrade. Zum ersten Mal. Alles gefroren! Die Straße, meine Hände, meine Nase, meine Ohren, meine Nerven, meine Hoffnung, meine Laune, meine Füße, meine Beine, mein Fahrrad, meine Eierstöcke, alles.
Und nächste Woche soll der erste Schnee kommen, nur für kurze Zeit, er wird wieder tauen, da bin ich mir sicher.
Notfalls hauche ich ihn an oder renne nackt durch die Gegend – dann muss er dahin schmelzen.
Aber Schnee ist Schnee und wenn er liegt, kann ich nicht in die Stadt radeln. Dann kann ich kein Geld ausgeben, keine sinnlosen Dinge in der leergefegten Innenstadt erledigen und nicht einmal mit dem Rad durch die Gegend fahren und neue Straßen entdecken.
Ich werde wohl eher in der Küche stehen und gegen das Verlangen ankämpfen müssen, erste Weihnachtsplätzchen zu backen und Weihnachtsmusik zu hören, die ich abgrundtief verabscheue. Am besten „Last Christmas“ in der Dauerschleife. Entschuldigung, wenn du jetzt wegen mir einen Ohrwurm hast. Zumindest ist das bei mir der Fall.

 Zurück zum Thema: ich baue mir dann wahrscheinlich auch aus Langeweile einen Weihnachtsbaum und dekoriere ihn. Und ich bilde mir ein, draußen den Weihnachtsmann gesehen zu haben. Wie du lesen kannst, bin ich absolut noch nicht bereit für den ersten Schnee.

Na gut, ich habe einen Grund für meine momentane Abneigung zum weißen Etwas. Ich habe Angst, damit eingeseift zu werden. Und es wird eintreffen. Ich sehe es bereits jetzt vor mir. Unzählige Studenten rächen sich für meine ausgeteilten Körbe. Sie verbünden sich, versammeln sich bereits nachts zur Vorbereitung, umzingeln das Haus, bauen riesige Barrikaden und verschanzen sich dahinter. Sobald ich die 50 Meter zum Schulgebäude hinter mich bringen will, attackieren und stürzen sie sich auf mich, erfreuen sich an meinen Schreien und Hilferufen. Ich verabscheue Kälte!
Und den kalten Krieg.
 Nur werden meine Kriegswunden nicht bluten – nein, nein!
Vielmehr werde ich mehrmals am Tag die Kleidung wechseln müssen.

Habe ich schon erwähnt, dass es bereits um kurz nach 16 Uhr stockdunkel ist und im Dezember die Sonne um 14 Uhr untergeht?
Ich Sonnenkind werde mir eine eigene malen müssen und diese dann stundenlang anstarren. Solange bis ich mir einbilde, dass sie echt ist. Vielleicht stelle ich noch eine Wärmelampe dahinter, das würde das Kunstwerk der technischen Natur etwas realistischer gestalten.

Wuhu, bald beginnt die Eis- und Schneezeit! Auf dem riesigen See Schlittschuh fahren, Eisfischen, dumm auf die Nase fliegen und dafür ausgelacht zu werden, was gibt es schöneres?
Ach ja, wenn ich diejenige bin, die lacht.

Freitag, 4. November 2011

kurze Statusmeldung

Es wird Zeit für eine Entschuldigung,
denn in den letzten Wochen sind so gut wie alle von Euch von mir vernachlässigt worden. Es tut mir verdammt noch mal leid, aber ich kriege es momentan nicht hin, mich bei so vielen zu melden.
Woran das liegt? Immerhin habe ich einen Grund vorzuweisen.
Wie alle Studenten im Opisto, mache ich zwei Wochen lang ein Praktikum. Meine Arbeit besteht darin in einer Schule die Stunden abzusitzen. Okay, in den 6. Klassen kann ich noch im Unterricht assistieren, aber die Älteren gehorchen nicht einmal dem Lehrer.
Die finnische Schule, die ich besuche, ist ziemlich interessant. Täglich ertönt morgens um kurz nach neun Uhr, Musik aus den Lautsprechern – klassische, manchmal auch rockige. Die Schüler tragen in den Unterrichtsräumen keine Schuhe, in Sport werden Jungs von Mädels getrennt. 400 Schüler gibt es und sie sind in den Jahrgängen 6 bis 9. Die Mädchen sind überdurchschnittlich dünn, das Benehmen vieler Jugendlichen ist unter aller Sau. Nicht selten stehe ich mit offenem Mund da, wenn ich die Gören beobachte. Rotzen den Flur voll, rempeln sich gegenseitig an, stören den Unterricht indem sie die Tische durch die Gegend werfen, tragen ihre Nasen meilenweit über dem Meeresspiegel und kreischen sinnlos herum, wenn ihnen etwas nicht passt. Manchmal sitzen 13-jährige neben mir und stinken nach Zigarettenrauch.
Aber es gibt auch eine andere Seite der Schule. Das Lehrerzimmer ist in weiß und pink gestaltet, ich fühle mich dort sehr wohl. Die Lehrer sind richtig nett und zuvorkommend, sowie interessiert und in den Unterrichtsfächern ist ihre Motivation deutlich erkennbar. Insgesamt gefällt mir die Struktur des Unterrichtens viel besser als in Deutschland. Jede Stunde verbringe ich mit einem anderen Lehrer, meistens verstehe ich kaum etwas. Die einzigen Fächer, welche mir Spaß bringen, sind Deutsch, Mathe und manchmal Erdkunde. Da kann ich wenigstens helfen. Nächste Woche habe ich hoffentlich mehr Deutsch und endlich auch mal Englisch.

Ich wurde in der Schule mehrmals für eine deutsche Schauspielerin aus einer Serie gehalten, die auch in Finnland ausgestrahlt wurde. Faszinierend, wie schnell ich zur Berühmtheit gemacht werde. Außerdem grüßen mich jetzt ständig Kinder auf der Straße und manchmal bekomme ich gebastelte Geschenke.

Heute ist ja außerdem noch der „Red Nose Day“. Die Schule veranstaltete dazu eine Schulstunde lang Kuchenessen und der Erlös kommt der Organisation zu Gute.

Es tut mir Leid, dass dieser Bericht jetzt so kurz und langweilig ist, ich habe noch 4 Tage das Praktikum und danach hoffentlich mehr Zeit und Motivation einen längeren Text zu schreiben. Täglich fahre ich 12 Km Rad, bergauf und bergab. Mein Fahrrad ist zweimal kaputt gegangen und ich durfte die restlichen Kilometer zu Fuß gehen. Zum Glück gibt es hier viele hilfsbereite Menschen, die mir bei der Reparatur geholfen haben.

Zu meinem Erschrecken, geht die Sonne immer früher unter. Mittlerweile ist es um kurz vor 17 Uhr dunkel, in zwei Monaten soll es bereits um 14 Uhr soweit sein. Deswegen bin ich jetzt auch zusätzlich zu dem Sportprogramm nicht nur schlank und rank, sondern auch vollkommen müde und demotiviert.

Ich wünsche euch jetzt ein wunderschönes Wochenende und hoffe, ihr verzeiht mir alle!
Liebe Grüße
Rica

Sonntag, 30. Oktober 2011

Sweeney Todd

Wie eine Prinzessin kam ich mir vor, als ich den Friseursalon betrat. Einzelne weiße Sessel standen vor großen Spiegeln, weiße Vorhänge hingen an den Fenstern, es wirkte alles wie ein königliches Zimmer. Einzelne Blumen und die verspielte Dekoration rundeten das Bild ab. Dazu die himmlisch finnische Weihnachtsmusik, ab und an war ein deutsches „Oh Tannenbaum“ zu hören. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, wie sehr ich Weihnachtsmusik liebe. Normalerweise löst diese Musik in mir ein Fluchtreflex aus, dem ich dieses eine Mal leider nicht nachgeben konnte.
„Setzen Sie sich doch!“, forderte mich die Friseurin, welche ihre knallorangefarbenen Haare zu einem Halbirokesen frisiert hatte, auf. Ihr romantischer Kleidungsstil, eine hübsche weiße lange Strickjacke und eine hellbraune Hose, passten perfekt zu dem Interieur.
Ich ließ mich in den Sessel sinken, beobachtete durch das Fenster hindurch das träge Geschehen der wenigen Finnen, welche gelangweilt vorbei gingen.
Die Atmosphäre war bedächtig und entspannend, außer mir waren noch zwei weitere Kundinnen in dem Raum, jede in Gedanken versunken.
Ein wenig aufgeregt war ich, da dies mein erster Friseurbesuch seit drei oder vier Monaten war.
Meine Haarkünstlerin begann mit dem Färben der Haare und ging das ganz anders an, als ich es aus Deutschland gewohnt war. Statt die Folien von hinten und unten anzusetzen, begann sie ganz vorne. Zum Schluss sah ich wie ein intergalaktisches Kunstwerk aus der Zukunft aus. Während die CD mit der Weihnachtsmusik das zweite Mal ihr bestes gab, las ich in meinem Buch und vertrieb mir auf diese Weise die Zeit.
Endlich, gerade bevor ich zum dritten Mal die finnische Version des „Stille Nacht“ Liedes ertragen durfte, wurde ich zum Waschbecken gebeten. Meine Füße wurden auf einen weißen Lederhocker abgelegt, meine Haare von den Folien befreit und mein Kopf mit unzähligen Massagen durchgeknetet. Auf Shampoo folgten Haarkuren und eine weitere Massage. Ich fühlte mich wie im Himmel.
Ein wenig zittrig begab ich mich anschließend zurück zu meinem Sessel und erklärte der Friseurin wie ich meine Haare gern geschnitten hätte. Ich zeigte ihr mit den Händen wie kurz der Pony werden und was sie mit den restlichen Haaren machen sollte.
Sie lächelte mich an und meinte „Ja, also nur einen Zentimeter kürzer.“
Ich blickte ihr in die Augen und ich war mir halbwegs sicher, sie hätte mich verstanden.
Dann begann sie zu schneiden und sie machte das wirklich mit einer sagenhaften Eleganz. Sie wirkte wie eine Haarspezialistin, die mit Scheren in der Hand auf die Welt gekommen war. Am Ende begann sie noch meine Haare zu föhnen und zu frisieren, ich saß da und war zwiegespalten. Mein Pony war unzählige Zentimeter kürzer als ich es gewollt hatte und meine restlichen Haare auch. Zu allem Überfluss sang im Hintergrund der Sänger erneut mit einem finnischen Dialekt „Oh Tannenbaum“ und ich fühlte mich ein wenig wie in einem Horrorfilm. Erst wurde ich so schön umgarnt und verwöhnt und dann, dann wurde mir mein Heiligstes genommen. Zusätzlich erschrak ich über den Preis, den ich zum Schluss zahlen musste. In Finnland ist tatsächlich alles teurer. Viel teurer. Doch tatsächlich bin ich, wie ich später erfuhr, sogar vergleichsweise günstig davon gekommen. In der Zukunft werde ich meine Haare selber färben, wobei die Friseurin das zumindest echt verdammt gut hingekriegt hat und außerdem hat sich meine Mähne noch nie so gut angefühlt. Nur an die neue Haarlänge muss ich mich wohl noch gewöhnen.
Zusammengefasst war dies wohl mein letzter Salonbesuch für die nächsten Monate und das nächste Mal werden auch wirklich nur die Spitzen geschnitten. Gelernt habe ich, dass Weihnachtslieder eine süße Vorwarnung auf das Böse sein können.
Passend zu Halloween kann ich jetzt wenigstens unverkleidet auf die Straße gehen, Süßigkeiten sammeln und andere erschrecken.

Folgendes Lied passt zu perfekt zu  meiner momentanen Stimmung...

Sonntag, 23. Oktober 2011

ein Stückchen Glückseligkeit

Ein kleines unsicheres Lächeln umspielt seine Mund, seine Lippen sind geschlossen, seine Augen blicken sanft und zugleich mit einer Note von Traurigkeit gefüllt in meine. Ich lächle zurück, fühle wie die Sanftheit mein Herz warm umhüllt und die Schwermut mir einen kleinen Stich versetzt. Ich spüre das Verlangen, nach seinen Händen zu greifen, sie festzuhalten und ihm zu sagen, es werde alles gut. Doch fehlen mir die Worte in der mir noch so fremden Sprache.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, atme tief durch, versuche mich zu entspannen, meine Angst vor einer Zurückweisung zu unterdrücken. Ich breite meine Arme aus, gehe noch einen Schritt näher an ihn heran und lege meine Arme um ihn herum. Er erwidert das, ich rieche sein Parfum und spüre seine Wärme. Zuerst ist sein Körper steif, dann lässt er sich ein wenig in die Umarmung sinken. 
Kurz darauf lasse ich ihn los, trete zurück und sehe ihm in die Augen. Er strahlt mich an, sucht nach einem Witz um vielleicht die Situation aufzuheitern, findet jedoch nicht die richtigen Worte und starrt verlegen auf den Boden. 
Ich knuffe ihn in die Seite und bedanke mich.

Jede Umarmung bringt etwas besonderes mit sich. Ich sehe eine Lehrerin, renne quietschend und kreischend auf sie zu. Wir springen uns gegenseitig in die Arme, drehen uns eins zwei Mal im Kreis, lachen und fallen beinahe hin. Danach fällt es mir schwer, nicht mehr zu lächeln.
Immer wieder überwinde ich mich, mache Schritte auf andere Menschen zu, öffne ihnen mein Herz, lasse sie einen Augenblick lang zusammen mit mir das Gefühl der Glückseligkeit und Sympathie erleben. 
Fremde oder befreundete und doch stets auf Distanz gehaltene Menschen jeglichen Alters und jeglicher Nation, lasse ich an mich heran und umarme sie.
Zum Schluss habe ich insgesamt über ein Drittel der Schulangehörigen umarmt. Angestellte und Studenten.
Eine Zurückweisung habe ich auch erlebt, doch hat diese mich nicht so sehr getroffen, wie ich zuerst befürchtet hatte.
Wer das Geschenk einer Umarmung nicht zu würdigen weiß, der hat ein Problem mit sich selbst. 

In einer Arte-Dokumentation hat einmal der Protagonist gesagt, jeder Mensch bräuchte mindestens zehn Umarmungen pro Tag. 
Mit meiner „Free Hug“ Aktion habe ich etwas in mir verändert, ich spüre eine neue Verbundenheit zu diesen Personen und auch zu mir selbst. Wie sehr würde es mich freuen, könnte sich jeder überwinden und andere Menschen an sich heran lassen. 
Anfangs dachte ich, dass der Unterschied von Kulturen mir einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Diese Angst hat sich nicht bestätigt. Allerdings traten andere Folgen ein, manche Studenten kommen seit dem öfter an, um mich zu drücken. Oder ich bekam ein Stück Torte geschenkt. Einen Kuss gab es auch. Am meisten hat es mich jedoch berührt, als ich spürte, wie eine Person in dem Moment der Umarmung, alles von sich fallen ließ und ein paar Tränen die Wangen herunter liefen. 

Ich frage mich nun, warum wir so zurückhaltend sind, obwohl gerade eine solch simple Handlung, zeitgleich zwei Menschen unheimlich glücklich machen und deren Seelen für kurze Zeit befreien kann.  

Dienstag, 18. Oktober 2011

Ein grünes Déjà-vu

Am Donnerstagabend bekam ich meinen allerersten Besuch. Freddy und Dad fuhren mit ihrem edlen hellblauen Mietwagen vor und sogleich durfte ich endlich wieder ans Steuer. Ich zeigte ihnen nebenbei noch die beste und großartigste Pizzeria der Stadt, welche beide „ganz akzeptabel“ fanden.
Abends stellte ich Fred einigen Studenten vor, der daraufhin herzlich mit Tee und einigen Witzen empfangen wurde. So ziemlich jeder von ihnen verglich seine Muskeln mit denen meines kleinen Bruders, zu meiner Belustigung hatte dieser jedoch nicht die größten. Wie sollte es auch anders sein, ist mein neuer großer Bruder der Stärkste von allen. Verblüffend war außerdem der Größenunterschied der beiden – mein großer Bruder reicht meinem Kleinen großzügig gesehen bis zum Bauchnabel.

Am nächsten Tag gab mein Vater einem Studenten eine Klavierstunde und mein Bruder spielte mir Unmengen an Filmen auf den Laptop. Ach ja, hiermit möchte ich mich für das vorgezogene Weihnachten bedanken.
Vielen Dank an die vielen Kleinigkeiten! Anita, Mum, Opi und Dad – ihr seid die Größten! Fred (ja, ich weiß, du hasst diesen Namen^^) selbstverständlich auch.

Nachmittags fuhren wir mit dem Auto nach Tampere (wuhu, ich durfte fahren!) und dort ließen wir es uns in einem Hotel gut gehen.
Der rote Kühlschrank und die eigene Sauna zogen uns magisch an.
Ich glaube, ich werde mir später in meiner eigenen Wohnung beides zulegen.

Samstags zogen wir in ein anderes Hotel mitten in der Innenstadt, gingen shoppen und abends in einem mexikanischen Restaurant essen. Natürlich entspannten wir uns auch in der Sauna und machten unserem Nachnamen alle Ehre. Darauf gehe ich jetzt nicht allzu sehr ein, diejenigen die uns gut kennen, wissen was gemeint ist. Es lebe das Chaos!
Außerdem bin ich nun um 18 Instantkakao-Tüten reicher (die sind uns aus Versehen in die Taschen gerutscht) und auch auf anderen Wegen hatten wir ziemlich viel Spaß. Wie immer, schaffte es Dad mal wieder im Fahrstuhl stecken zu bleiben – es gibt schon Gründe warum ich eine Fahrtstuhlphobie habe und es vorziehe, ohne meinen Vater mit dem Lift zu fahren....
Ich frage mich, wie der das immer wieder hinkriegt. Wahrscheinlich steht er da drin, drückt auf alle Tasten, springt mit seinem Federgewicht gleichzeitig durch die Gegend und macht Dinge, die Männer, allein im Fahrstuhl stehend, tun.

Mein liebster Leser, ich bin jetzt tatsächlich endlich in Finnland angekommen. Ich habe Zeit für alles, ich genieße den Augenblick, ich lebe bewusster und ich habe kaum Ansprüche mehr.
Das ist mir im Vergleich zweier dauerhaft gestresster Deutscher aufgefallen.

Auf dem Rückweg am Sonntag (juhu, ich durfte wieder fahren!) begegneten wir erneut unzähligen Elchen auf Schildern, tricksten Blitzer aus – Ricarda Schuhmacher hat nämlich im Gefühl, wann wieder einer auftauchen könnte und... ich fand ein grünes Sofa!

Mitten im Wald, umgeben von Moos, Birken, einigen Tannen und bewachsenen Steinen, stand es. Mutterseelenallein.
Als wollte es sagen: „Komm, setze dich. Gesell dich einen Moment zu mir. Genieße die Stille, die Schönheit des Herbstes und träume ein wenig. Spüre den Augenblick. Verweile!“

Sonntag, 16. Oktober 2011

Gästeeintrag von Michael

„Willkommen auf dem Flughafen in Helsinki ihr beiden.“, stand in der Nachricht von Ricarda, welche zeitgleich mit uns in Finnland per SMS eintraf.

Mit der Hoffnung, sie nach etlichen Kilometern in der unendlichen Wildnis zu finden, mieteten wir uns ein kleines hellblaues Auto und machten uns frohen Mutes auf den Weg.
Noch war die Reihenfolge unklar.
Am Ende einer nie aufhörenden Straße, welche durch unzählige Wälder und an Seen vorbei führte,
stand ein Haus und da genau wurden wir von Ricarda erwartet.

An dieser Stelle erlaubt mir bitte die Beschreibung von Finnland:
Keine Angst, allzu viel muss ich darüber nicht schreiben...

Dunkle Wälder, absolut geeignet für die vielen Elche und für Liebespaare, die kein zu Hause haben oder einfach nicht gestört werden wollen, unterlegt von Unmengen großer und kleiner mit Moos bewachsener Felsen und Steinen.

Nochmal zu dem Nationaltier, wir haben weit und breit keine Elche gesehen und auch keine einzige Kuh, aber dafür die Schilder dazu.

Zusätzlich zu den Elchschildern, welche die Autofahrer bremsen sollen, gab es tausende Fotokameras an der Straße, um einmalige Urlaubsbilder oder zu schnelle Elche zu fotografieren.

Wichtig zu erwähnen, ist hier aber noch der Hamburger Hes (Hesburger), der alle ca. 20 km den Leuten von Weit und Fern eine Möglichkeit des Treffens bietet.

Es ist der einzige Treffpunkt, der ein wenig für Abwechslung zwischen Wäldern, Steinen, Elchen, Schildern, Blitzern, Liebespaaren(?) und Kühen sorgt.....

Lustig war der Einkaufsbummel in der Großstadt Tampere, mit ca. 200.000- Einwohnern, einer der größten Städte hier.

Natürlich ging es vorher über Stock und Stein und den schon beschriebenen Hindernissen.

Nachdem wir im Hotel festgestellt haben, dass die Zimmer dort mit einer Sauna bestückt sind,
wurde uns klar, die Winter werden hier kalt.

Wir organisierten folglich noch genügend Winterklamotten für Rica und somit waren wir am Ziel angekommen, wo ich feststellte, die Finnen sind sehr warmherzige Menschen.
Nach dem Beobachten der Bevölkerung und deren Verhalten, schließe ich meinen Bericht mit der Feststellung: die Finnen sind bei sich, nehmen sich viel mehr Zeit und können vieles in Ruhe genießen.


Sonntag, 9. Oktober 2011

Finninnen und Finnen

Aufgestylt in Jogginghose und einem T-Shirt, das auf einen bestimmten Musikgeschmack schließen lässt, betritt er den Raum. Sehr cool und übermännlich guckt er in die Runde  und erinnert ein wenig an einen Cowboy, der einem alten Westernfilm entsprungen ist. Sein Schlafzimmerblick und sein Dreitagebart lassen die Herzen einiger Singlefrauen höher schlagen. Es scheint als würde er sagen wollen: „Ja ich bin es wirklich!“ und er ist es tatsächlich. Er ist ein waschechter Kerl. Ein Finne. Etwas zu bärtig für sein Alter vielleicht, sein Kleidungsstil auch etwas fragwürdig, aber so etwas interessiert Frauen nach jahrelanger erfolgloser Beutesuche nicht. Nun steht er dort in der Tür, lässt die Damenwelt den Atem anhalten. Er. Eben aus dem Wald vom Holzhacken äh vom Angeln monstergroßer Fische oder ach vergessen wir das,  gerade von seiner Mutter aus dem Bett geworfen und von dort aus direkt her gekommen. Nun gesellt sich das überaus attraktive Objekt an die Bar, die Wirtin nickt ihm zu, das übliche mal wieder.  Mit dem Bier in der Hand sucht er sich einen Platz an einem der Tische, schweigt vor sich hin und verzerrt seine erste Mahlzeit. Nach den ersten drei Bieren ist er dann auch endlich ansprechbar und wach, hebt seinen Blick, lässt ihn durch die Runde schweifen. Entdeckt ein durchaus hübsches weibliches Geschöpf, bestellt sich vorsichtshalber noch ein paar Biere und dann…  setzt er sich aufrecht hin, versucht es zumindest, guckt schüchtern zu dem Mädchen und wartet darauf, dass es den Blick erwidert.
Das Weibchen wirft ihm ein kurzes Lächeln zu, bloß nicht zu viel am Anfang,  und unser Finne sieht schnell weg und strahlt innerlich vor Glück. Männlich wie er ist, lässt er sich das allerdings nicht anmerken. Beide trinken weiter fleißig, sie ihren Kaffee und lacht und kichert leise über einen Witz, den eine ihrer Freundinnen erzählt hat. Er bestellt sich noch weitere fünf letzte Biere und flirtet weiter mit dem Mädchen, welches ihm immer mal wieder einen verlegenen Blick zuwirft.
Kurz guckt er auf die Uhr und steht auf, denn er ist zum Vorglühen und darauf folgendem Kneipenrundgang mit Freunden verabredet.
 Bevor er die Kneipe verlässt, sieht er noch einmal kurz zu der Schönheit rüber und nimmt sich ganz fest vor: „Das übernächste Mal spreche ich sie eventuell an!“

Der liebe Martin hat mich gebeten darüber zu berichten, wie finnische Männer und Frauen überhaupt zueinander finden. Ich habe eine Woche lang eine Antwort dazu gesucht  und dachte zum Schluss, kläglich daran gescheitert zu sein.

Das Wochenende über war ich in Joensuu – dort verbrachte ich die Zeit mit Mirka und Mari, letztere ist meine Supportperson. Ehrlich gesagt war ich sehr froh darüber, endlich aus Savonlinna ausbrechen und den in letzter Woche geschehenen Schicksalsschlägen entkommen zu können. Abends zogen wir durch die Bars und hierbei kam dann endlich die Erleuchtung. In diesen Kneipen ist es viel einfacher einen Partner zu finden. Frau muss nur warten oder im Zweifelsfall nachhelfen, bis das Geschöpf der Begierde betrunken genug ist und von selbst den kommunikativen Kontakt sucht.

So war es auch bei uns. Wir saßen etwas später in einer Bar und unterhielten uns, bis ein betrunkener Kerl vorbei kam und sich zu uns setzen wollte. Da er nicht wirklich unserem Beuteschema  entsprach, denn seine (naaaaatürlich total unfettigen) Haare standen zu allen Seiten ab, der Dreitagebart mit vereinzelt zu langen Stoppeln und dem nicht vorhandenen Parfum, ließen ihn so attraktiv wirken,  wie nur ein betrunkener Kerl es sein kann. Desweiteren verbreitete er einen durchaus sehr angenehmen Duft von Bier und seiner letzten Mahlzeit, doch besonders seine Körperhaltung, die darauf schließen ließ, dass er dringend das Bedürfnis verspürte, in den nächsten Sekunden die Toilette aufsuchen zu wollen, veranlasste uns dazu ihn weiter zu schicken. Traurig versuchte er sein Glück bei einem anderen Tisch. Wenig später sahen wir ihn draußen vor dem Fenster und seine traurige Miene sprach Bände. Unzählige Male war er bei den Frauen abgeblitzt und hatte mehr Körbe gesammelt als Michael Jordan in seinem besten Spiel. Doch so schmächtig der Kerl auch auf uns wirkte, überraschte er uns, die am Fenster sitzenden Frauen, wie er mal eben einige Straßenschilder aus der Erde hob und als wären sie schwerelos, durch die Gegend schleuderte. Seine Erfolgslosigkeit bei den doch sonst so scheinbar anspruchslosen weiblichen Geschöpfen, veranlasste ihn, seine Wut und Trauer an Stromkästen und Bänken auszulassen, bis er endlich mit gesenktem Kopf Richtung Parkplatz torkelte und dabei so sehr hin und her schwankte, dass ich mich an ein schweres Erbeben erinnert fühlte.

Am Samstag gingen wir zum Filmfestival und sahen uns einen Film über vier Bulgaren, die ihre große Liebe in Finnland suchten, an. Teilweise sprachen sie bulgarisch und finnische Untertitel übersetzten das Ganze. Das meiste verstand ich, wenn sie sich auf Englisch unterhielten. Das machte mir jedoch nichts aus, denn ich begriff die Geschichte auch ohne große finnische oder bulgarische Sprachkenntnisse. Dank des Filmes (in dem übrigens alle zig Flirts hatten und zwei von ihnen am Ende jeweils eine Dame eroberten) weiß ich jetzt, wo und wie ich eine Finnin aufreißen könnte. Möglich wäre dies durch Internetdating, Speeddating, Tango tanzen, auf Festivals gehen oder einfach wildfremde Personen in der Stadt ansprechen.  Da mir das jedoch ein wenig zu stressig ist, belasse ich es einfach bei den Kneipenbesuchen und lasse die Männer abfüllen.
Im Laufe meiner Recherchen erzählten mir einige Mädels von ihren Geschichten und die liefen alle ungefähr gleich ab.
Männchen und Weibchen lernen sich irgendwo kennen, sehen sich immer mal wieder überwiegend durch andere Freunde, treffen sich nach Monaten zu zweit und irgendwann treffen sie sich regelmäßig und tun, was normale Pärchen auch tun – nur dass sie sich noch nicht eingestanden haben, dass sie eigentlich auch zusammen sein könnten. Achja, mit den Intimitäten warten viele von ihnen nicht solange bis es zwischen ihnen offiziell ist, das würde ja eine viel zu lange Wartezeit in Anspruch nehmen.

Abends waren Mari und ich in der Kneipe „Wanha Jokela“, in der sich verschiedene finnische Berühmtheiten unter normales Volk mischen. So kam es, dass ich eine berühmte Schriftstellerin und Mutter einiger sehr berühmter finnischer Musiker kennenlernte und auch andere Künstler traf. Einzig meine Getränke musste ich bezahlen und während die Finnen amüsiert über die witzigen Songtexte lachten, versuchte ich durchgehend zu grinsen, weil öfters mal die Kamera eines Filmteams auf mein Gesicht gerichtet war und ich mich nicht als wissenslose Nichtfinnin oder humorlose Einwohnerin outen wollte.
In dieser Bar kam es auch dazu, dass ich eine ganz neue Seite der Finnen entdeckte. Die Räume waren überfüllt, jeder sprach und lachte mit jedem, Fremde teilten Tische miteinander und während ich mein Bier trank, gesellte sich ein fescher Kerl mit geflochtenem Kinnbart an unseren Tisch und verzauberte meine armen Gehirnzellen mit einigen Kartentricks, denen Mari und ich später dann doch auf die Schliche kamen. Dann betrat eine städtische Berühmtheit den Raum und hielt eine kurze Ansprache. Ich konnte den Blick nicht von ihm ablenken, so sehr zog er meine Aufmerksamkeit auf sich.
Mit Halbglatze und langem, schütteren Haar und einem noch längeren Bart, stand er in mitten der Menschenmasse. Seine viel zu enge pinke Jeans steckte in schwarzen Gummistiefeln und sein blumiges T-Shirt klebte faltig an seinem Oberkörper. Jeder, wirklich jeder aus Joensuu, kennt ihn.
Am Ende des Abends hatte ich etliche unterschiedliche Auftritte finnischer Prominenz beobachtet, unter anderem sangen fünf extrem auf Hässlich gemachte Frauen dreckige Lieder und die auch in Deutschland bekannte finnische Rock- und Country-Band „Freud Marx Engels & Jung“  brachte das Publikum zum gemeinsamen Mitsingen und erinnerten mich ein wenig an den hamburgischen Schnack, den ich ein bisschen vermisse.

Am Ende dieses Wochenendes sehe ich der nächsten Zeit ein wenig optimistischer entgegen. Schließlich weiß ich jetzt ja, wo ich Freunde finden kann. Zwar wird mir meine Leben den möglicherweise erhöhten Verzehr von Alkohol nicht verzeihen, aber was wäre ein Kneipenausflug ohne Bier?