Sonntag, 29. Januar 2012

Winterabenteuer

Bereits als kleines Kind war ich den sogenannten „Abkürzungen“ eigentlich mehr abgeneigt, als von ihnen begeistert. In meinen Erinnerungen sehe ich mich jedes Mal dank dieser vermeintlichen kürzeren Strecken, irgendwo im Nirgendwo herum irren und Stunden später dann doch ankommend. Seitdem halte ich mich entweder an den normalen Weg oder schlage selbst eine Strecke vor.
Ja, ich vermeide es mittlerweile, mich auf die anderen verlassen zu müssen, wenn es darum geht, möglichst schnell das Ziel zu erreichen.

„Lass mal 'ne Abkürzung nehmen.“
So begann alles. In Finnland. Genauer genommen in Savonlinna. Der Großstadtmetropole des östlichen finnischen Ländchen, das auf der Landkarte größer aussieht als es ist. Im Vergleich zu Deutschland. Nein, eher das Gegenteil. Finnland ist riesig. Und seine Bewohner kennen keine Abkürzungen. Da möchte man mal spontan von Tampere nach Savonlinna fahren – ohne Auto.

Eine gerade Strecke gibt es selbstverständlich nicht. Warum auch? Ist doch viel schöner, ein großes Dreieck über andere Metropolen zu fahren, die auf der Karte als Großstädte gekennzeichnet sind und sobald man sie passiert, sich als kleine Ansammlungen von Häusern herausstellen. Viele Menschen steigen natürlich auch nicht in den Bus. Selbst die gerade Strecke besteht aus mehreren unendlich großen Kurven. Wer hat denn die ganzen Seen zwischen die Straßen platziert? Muss wirklich ein Mann gewesen sein, so etwas hätte eine Frau niemals geplant.
Achja, warum sollte man auch 360 KM statt 472 KM fahren? Dann würden die Passagiere viel zu früh ankommen. Und wer will das schon?

Zurück zum Thema.
Am Freitag, den 27.01.12. setzte ich mir das Ziel in den Kopf, zu Fuß zum Citymarket zu laufen. Die normale Strecke beträgt knappe sechs Kilometer.
Bevor ich jetzt weiter aushole, wird es Zeit für eine Warnung:

                       Warnung: Die Stunts in diesem Bericht wurden von Profis ausgeführt. Im Interesse                           der eigenen Sicherheit und zum Schutz der Personen in der Umgebung, sollten keine dieser Stunts, die es gleich zu lesen gibt, ausprobiert oder nachgemacht werden.


Ich hoffe, ihr haltet euren Kindern nun die Augen zu. Oder schafft sie aus eurer Nähe.

Wo war ich? Heute verliere ich ständig den roten Faden.
Also, meine Kompanie bestand aus drei werten Herren und meiner Wenigkeit. Ausgerüstet war ich mit einer Leggings, Jeans, mehreren dicken Socken, manche knielang, Stulpen, Schneeschuhen, dicke Winterjacke und mehreren Pullis darunter, dazu eine Mütze und Handschuhe.
Die anderen waren ähnlich ausgestattet und wir trafen uns um viertel nach zwei.
Gemeinsam ging es los, frohen Mutes stolzierten wir die gewohnte Strecke entlang. Die Straße schlängelte sich zwischen den Schneemassen hindurch, Häuser verschwanden teilweise hinter den weißen Bergen.
Nach einer kurzen Diskussion schlage ich vor, über den See zu laufen. Der sei seit zwei Wochen oder mehr gefroren und auf der anderen Seite der Brücke gäbe es sogar schon richtige SKI-Strecken.
Wir entscheiden uns für die kürzere Strecke und kämpfen uns zunächst durch einen bewaldeten und verschneiten Abhang hinunter.  Die Füße versinken hierbei tief in das eisig kalte Weiß.
Teilweise sind es fünfzig Zentimeter Schnee und jeder Schritt kostet Kraft. Trotzdem machen wir miteinander Späße und kommen nach wenigen Minuten am See an. Eine Weile suchen wir nach der idealen Stelle. „Hier?“, jeder von uns stellt die Frage mehr als einmal. Irgendwann sind wir alle einverstanden. Die Strecke über das Eis beträgt geschätzte 800 Meter. In mir herrscht ein wenig Chaos: „Welche Regeln gab es nochmal, wenn man über Eis gehen will?“, „Die Menschen sind doch früher auch über die vereiste Ostsee gelangt“, „800 Meter sind ziemlich schnell vorbei“.

Wie im Entenmarsch watscheln wir über die Eisfläche. Halten manchmal an, hüpfen ein bisschen, begutachten das Eis argwöhnisch. Ich kämpfe mich an die Spitze. Dunkle Flächen liegen auf einmal vor uns. Wie war das? Die dunklen Flächen deuten auf frisches und eventuell dünnes Eis hin? Ich versuche zwischen ihnen entlang zu laufen. Wir befinden uns kurz vor der Mitte der Strecke. Auf einmal macht es „Kkkkkkkrggggg“. Das widerlichste Geräusch, das ich jemals gehört habe. Vor meinem inneren Augen spielt sich der Film meines vergangenen Lebens ab. Ich quietsche auf und begehe den Fehler zurück zu rennen. „LANGSAM“, fordert mich einer auf. Erst als ich mich halbwegs sicher fühle, ändere ich das Tempo. Die anderen sind nun auch unsicher. Ich erzähle ihnen, was ich gehört hab und ängstlich gehen wir wieder zurück ans Ufer. Wir beratschlagen uns und während sich einer ein bisschen weiter wieder auf das Eis wagt, laufen wir zu dritt zu einem schmaleren Stück.

„Gehe nicht alleine auf das Eis“, „Gehe nicht auf das Eis, wenn eine Strömung im See sein könnte.“ - an die Regeln hielten wir uns nicht. Ja, ich wusste davon. Und trotzdem schlug ich vor, die kürzere Strecke hundert Meter weiter zu probieren. Dass da eine Strömung sein könnte, war von ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit.
Mein Abenteuerdrang gewann und wir trafen uns mit unserem Einzelgänger paar Minuten später an einer anderen Stelle des Sees. Alles lief wunderbar. Überhaupt keine Probleme und  dann kamen wir auch endlich auf der anderen Seite an.

Auf dem Rückweg erwärmten wir unsere Seelen mit flüssigem Brot und stolzierten absolut ohne Angst zurück – den neu alten Weg entlang. Sogar der riesige Riss zwischen zwei Eisplatten ließ mich nur leise aufschrecken. Ich meine, wir haben seit Wochen -10 bis -25 Grad Temperaturen.
Ja, es war ziemlich waghalsig. Doch dafür haben wir weniger als die Hälfte der normalen Zeit zum Supermarkt gebraucht und hatten verdammt viel Spaß. Ich habe seit langem nicht mehr so gelacht und ich glaube, wir vertrauen uns gegenseitig ziemlich viel. 

Am nächsten Tag war ich im Übrigen wieder auf dem See. Dieses Mal allerdings auf der anderen Seite der Brücke und dort gibt es unzählige SKI-Wege, die von einem Traktor gemacht wurden. Nach unzähligen Jahren stand ich wieder auf SKI, zwar nur Langlaufskiern, aber immerhin. Es war traumhaft durch die schneebedeckte und von der Sonne beschienen Landschaft zu fahren – zumal man hauptsächlich niemanden trifft und seinen Gedanken nachhängen kann. Dabei habe ich auch neue Gebiete erkundet.
Der Winter ist in diesem Lande angekommen und bald wird es nachts sogar bis zu -30 Grad kalt.
So kalt ist das gar nicht, wichtig ist es die richtige Kleidung zu haben.

Sonntag, 22. Januar 2012

dem Fernweh entgegen

Liebes Reisetagebuch,

nach den typischen deutschen Flugverspätungen betrete ich nun doch noch endlich den Hamburger Flughafen. Ein viel zu schwerer Koffer für die kommenden zwei Wochen, schleicht wie ein geprügelter Hund hinter mir her.
In der Halle angekommen erkenne ich nur meine Eltern, weil sie so aussehen, wie sie es immer tun. Den bartigen und Tarzan ähnlichen Kerl, welchen sie im Schlepptau hinter sich haben, erkenne ich erst auf den sechsten oder siebten Blick. Wie in einem der kitschigsten Liebesfilme kommen alle auf mich zu gelaufen – nein geschwebt. Im Zeitlupentempo schleichen sie mir entgegen und scheinen auf halber Strecke allmählich zu schwächeln. Zwischen ihren Beinen ist Bella erkennbar doch auch diese taube Dame kriegt sichtbar keine großen Euphoriestöße bei meinem Anblick. Bestens darauf vorbereitet, ziehe ich eine Hunde-Bifi aus der Jackentasche und im Takt wedeln endlich auch mein Hund und diese Wurst aufeinander zu. Nachdem das Tierchen mich nach einer gefühlten Ewigkeit erkannt hatte, stürzt sie auf mich zu und begrüßt mich, als wäre ich ein halbes Jahr nicht mehr vor ihrer Nase gewesen.
Nun wird mir auch noch der nette Tarzankerl vorgestellt und an seinem Gang erkenne ich Hinweise auf frühere Steinzeitaktivitäten – sein Name ähnelt dem meines Bruders und irgendwann eröffnen sich mir einige Parallelen in meinem Erinnerungsvermögen.
Die allerbeste Überraschung ist, die Anwesenheit meiner liebsten Lisa. Wie sehr hatte ich sie vermisst!
Auch mein neuer Fastunddochnieoffiziellhalbbruder Marvin ist dabei, klein wie eh und je – wahre Größe kommt dann anscheinend wirklich aus dem Herzen.

Ich verbrachte eine Woche in Deutschland und traf jeden Tag meine allerbesten und mir wichtigsten Freunde, die Zeit für mich hatten. Leider konnte ich nicht jeden treffen, da ich nur knappe vier Tage im Lande war. Mit Johanna, Dana und Malin vernaschte ich unendlich viele Früchte, eingetunkt in Schokolade. Sogar Hannah traf ich wieder und zum Glück war alles so wie früher mit uns. Den richtigen Kulturschock bekam ich am Mittwoch, als ich nach Hamburg fuhr um Anna nach so langer Zeit endlich wiederzusehen. So viele Menschen um mich herum, überall. Das wurde mir ziemlich schnell zu viel und es fiel mir sehr schwer mich zu konzentrieren. Woher kamen die bloß alle? Und am Dienstag besuchte ich Julia, Marten, Kathrin und Bernd.

Die ganzen Gespräche taten mir unheimlich gut. Kaum zu glauben, wie schnell ich merkte, dass mir die Menschen und Konversationen gefehlt haben. Erst in dieser Woche begriff ich, wie schwierig ein Freiwilligenjahr sein kann. Besonders auf all die guten Freunde verzichten zu müssen, die mir immer wieder auf die Füße helfen, mich festhalten und mit denen ich jeden Blödsinn machen kann. Überhaupt endlich wieder richtig verstanden zu werden. Zeitweilig wollte ich gar nicht mehr weg aus Deutschland.

Mit meiner Mutter zusammen, verweilte ich dann eine Woche auf Teneriffa. Einmal waren wir in Anaga wandern und ein weiteres in der Masca-Schlucht. Die Tage dazwischen genossen wir das entspannen, die Sonne, Spaziergänge und alles was Frauen noch so lieben. Habe mich ganz spontan dafür entschieden, dort zu bleiben. Denn im Gegensatz zu den Männern in Finnland, tun die Spanier Frauen einfach nur gut.

Meine Rückreise erfolgte am Mittwoch. Alleine stieg ich in den Bus und fuhr zum Flughafen. Durch eine Glasscheibe schrieben mein Dad und ich uns mit den Handys Willkommensgrüße und andere Dinge. Er war gerade angekommen und ich dabei abzufliegen. Schwupps war ich im Flieger und genoss das chronische Schnarchen und den Duft erlesener 10-Uhr-Morgen-Biere. Ich habe mich gleich wie in Deutschland gefühlt. Dank spanischer Pünktlichkeit kam ich zu meinem Bedauern, ich hätte das Stückchen Heimat gerne noch weiter ausgekostet, in Hamburg an und übernachtete dort zu Hause.

Am nächsten Tag kam ich gegen 12 Uhr in Frankfurt an und durfte das Sportprogramm durchlaufen, indem ich von dem B- zum A-Bereich lief. Dann ließ ich mich in A1 nieder und wartete 1 ½ Stunden. Irgendwann fiel mir auf, dass mein Flug immer noch nicht angesagt worden war. Daraufhin verbrannte ich ungefähr die vierfache Menge der Kalorien, die ich zuvor verbrannt hatte und kam tiefrot im Gesicht und schwer atmend bei Gate A24 an. Wer baut eigentlich ständig diese riesigen Flughäfen? Püh!
Eine Stunde später saß ich endlich im Flieger und es ging weiter nach Helsinki. Noch während der Landung erblickte ich ES. Es war weiß. Nicht ein bisschen weiß, nein... alles war weiß. Voller Weiß!
Entgegen all meiner Erwartungen schaffte ich es eine halbe Stunde vor der geplanten Zeit im Camp in Ylöjärvi anzukommen. Der Taxifahrer erlitt beim Ausladen meines Koffers einen Bandscheibenvorfall, den er zum Glück nicht allzu deutlich zu gab. Naja, er soll sich nicht so anstellen.
Die Tage bis zum Sonntag verbrachte ich mit den anderen Freiwilligen, die ich schon kannte und es kamen ein paar neue Gesichter dazu. Während wir uns wieder mal mit typischen Seminarbestandteilen und vegetarischem Essen auseinander setzten, ließen wir die Abende mit der Sauna ausklingen. Da der See zugefroren war, legten wir uns auf ihn und wälzten uns im Schnee. Erst nach dem zweiten Rundgang kam ich auf die Problemlösung der eiskalten Füße. Es hilft zu rennen und die Zehen möglichst wenig den Boden berühren zu lassen.

Ehe ich mich jetzt schlafen lege, habe ich noch einen ultimativen Tipp für Leute, die in überfüllten Reisebussen stets den Platz neben sich frei halten wollen: Setzt euch in den Gang und tut bei jedem Haltestop so, als würdet ihr tief und fest schlafen. Auf diese Weise habe ich mir überbreite, nach Alkohol duftende und nervige Menschen vom Leibe gehalten und bin nach sechs Stunden Busto(rt)ur endlich wieder in Savonlinna angekommen.

Montag, 2. Januar 2012

Bemerkung an den Winter

Riesige Schneeflocken fallen vom Himmel, innerhalb weniger Stunden verwandelt sich die Welt in eine reale Version des Eisköniginnen-Schlosses, einem Märchen entsprungener zur Realität werdender Traum. Während die Kinder begeistert hinaus stürmen und Schneemänner mitsamt Anhang bauen und erst aufhören, wenn der Schnee aus der nahen Umgebung aufgebraucht ist, spielt in meinem Kopf die bekannte Melodie von Rolf Zuckowskis „Es Schneit, kommt alle aus dem Haus!“ in Dauerschleife.
Auf dem Fenster sammeln sich weitere Schneesterne und schmelzen aufgrund der Zimmerwärme, die durch das schlecht isolierte Haus nach außen dringt, zu einem Eis-ähnlichen Gemisch und versammelt sich dank der Schwerkraft auf der unteren Seite des Fensters.
Hinauszugehen wird nun ein großes Unterfangen. Erst muss die Motivation gefunden werden, dann die richtige Kleidung ausgewählt und zu guter Letzt die Schneeberge überquert werden, die sich draußen versammelt haben.
Selbstverständlich stehen Schneeballschlachten und dem Machen von Schneeengeln absolut nichts im Wege, allerdings gibt es da eine einzige Sache, die mir persönlich das Ganze erschweren. Der Schnee fehlt.
Finnland. Liebes Finnland. Land des Weihnachtsmannes und des Schnees. WAS hast du vergessen? Ja, seit einigen Wochen ist offiziell – nicht nur astronomisch sondern auch meteorologisch!
Das einzige, was du mir bietest, sind ein paar weiße Krümel auf der gefroren Erdfläche.
Meine Pläne waren doch so großartig, vermutlich sogar zu genial, sodass du mir einen Strich durch die Rechnung machen wolltest.
Auf meiner Liste, die einsam und fast so traurig, wie ich es bin, an der Wand hängt, stehen einige Vorhaben. Unter anderem:
- Schneemann insklusive Familie bauen
- zehn Schneeengel machen
- eine Schneeballschlacht gewinnen (wie soll ich die gewinnen, wenn ich sie nicht einmal beginnen kann?)
- Ski fahren
- über den gefrorenen See laufen
- eine Schneeskulptur bilden
- mich an dem Bau eines Schneeiglus versuchen
Das würde mir ja für den Anfang reichen. Komm schon! Die Deutschen und benachbarten Länder wollen jetzt doch sowieso lieber einen heißen Sommer erleben, anstatt denen die weiße Masse zu schicken, kannst du mich damit doch kurz erfreuen!

Aber wehe du missverstehst mich und setzt mir morgen einen 10 Meter hohen Schneeberg vor das Fenster – cool wäre das schon, doch lieber wäre es mir, würde das erst am 24. Januar erfolgen. Ja, lass uns eine Abmachung treffen! Bis zum 24. Januar schneit es nicht und dafür höre ich auf zu jammern!
Was war überhaupt dein Vorhaben für das Jahr 2012? Es einfach nicht schneien und Rica im Trockenen oder eher Gefrorenen sitzen zu lassen? Danke, sehr großzügig. Im Allgemeinen würdest du dann eventuell das einzige Wesen sein, das seine Vorsätze auch tatsächlich in die Tat umsetzt.

Sonntag, 1. Januar 2012

finnisches Silvester

Um 16 Uhr herum wusste ich noch nicht, wo ich Silvester verbringen würde. Sieht mir momentan mal wieder ähnlich, denn ich war sogar kurz davor, einfach mal das Fest der Feste zu verschlafen. Hätte mich nicht gestört.
Im nahegelegenen Supermarkt, beim Großeinkauf einer einzelnen Tüte geriebenen Käses, traf ich zwei russische Studenten meines Opistos und wurde sogleich zu einer kleinen Feier eingeladen. Gegen 18 Uhr ging es los. Der Tisch war gedeckt mit unzähligen russischen Gerichten, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Auf jedem Teller war ein riesiger Haufen verschiedener Salate. Sie unterschieden sich lediglich in der Zusammensetzung der Zutaten und einer Menge Kaviar. Todesmutig versuchte ich alle zu probieren, natürlich wurde ich zuvor zu meinem Glück gezwungen, indem einfach alles auf meinen Teller dekoriert wurde, ehe ich das bemerken konnte. Püh! Einfach abgelenkt hatte man mich zuvor.

Es war eine kleine Runde, die von unterschiedlichen Nationen vertreten war. Bangladesh, Afghanistan, Finnland und Russland, achja Deutschland selbstverständlich auch – wie konnte ich das nur vergessen? Dazu dann noch drei kleine russische Kinder, die ich den Abend über immer mal wieder bespaßte.
Das Vorurteil „russische Feiern hängen stets mit Vodka-Exzessen zusammen“ wurde irgendwie, wohl oder übel, bestätigt. Es gab genau drei Getränke zur Auswahl: Sprite (für die Kinder), puren Vodka oder Vodka mit Himbeersaft. Letzteres wurde erbarmungslos nachgefüllt, sobald das Glas halbleer (oder halbvoll?) war. Nach dem Zweiten begann ich möglichst langsam zu trinken, das wurde mir allerdings dadurch erschwert, dass ständig auf das nächste Jahr angestoßen wurde.
20 Uhr nahte und somit auch die Silvesterkinderversion.  

Eingepackt in Winterkleidung, versammelten sich alle Kinder und Familien der Nachbarschaft auf einem Volleyballfeld in der Mitte der Wohnsiedlung. Zuvor durchquerten wir ein Labyrinth unzähliger weißer und sich aufs Haar gleichender Häuser.
Während einige Männer sich ihrem Spieltrieb hingaben und Silvesterraketen in die Luft jagten, eroberte ich das Herz der sechsjährigen Tochter der russischen Mitstudenten. Gemeinsam zündeten wir Kinderböller und Wunderkerzen an, bis nach zehn Minuten alle wieder in ihre Hütten gingen. Passend zur Jahreszeit lag überall ein wenig Schnee herum und verwandelte die Welt in schwarz/weiß.
Zurück im Haus gab es selbstverständlich eine neue Portion des Vodka-Himbeer-Gemischs und das bereitete mir allmählich Kummer. Nicht nur zum Trinken, sondern auch zum Essen, wurden wir ständig aufgefordert. Langsam verwandelten sich unsere Körper in riesige Kugeln, die angetrunken durch die Gegend kullerten.

Wir hatten wunderbare Gespräche, lachten sehr viel und hörten erstaunlich gute Musik. Um halb zwölf machten wir uns mit dem Auto auf den Weg in die Innenstadt, dort hatten sich gerüchteweise alle Einwohner versammelt. Als wir ankamen, stießen wir auf eine recht übersichtliche Menge von Menschengruppen, die sich natürlich aus Rücksicht auf die anderen mit ausreichendem Abstand zueinander positioniert hatten und warteten. Es war still.
Dass es irgendwann 24 Uhr war, bekam ich nur mit, weil plötzlich ein Feuerwerk startete. Es war recht angenehm zu beobachten, der schwarze See, der sternenklare Himmel – am nahen Horizont explodierende Feuerwerkskörper. Trotzdem fehlte mir die Stimmung. Niemand zählte die letzten 10 Sekunden bis zum neuen Jahr, kein Mensch umarmte aus totaler Freude wildfremde Personen und kreischte mit ihnen zusammen „Yeeeeeeeeeeeah! 2012!!!!!!!!!!!“ - so wie ich es aus Deutschland kenne, keiner raunte „Aaaaaaaaaah! Ooooooooooh! Uuuuuuuuuuuh!“ während des Feuerwerkes, lediglich war ein „Kylmä“ („kalt“) zu hören.
Das Feuerwerk dauerte wenige Minuten und sobald es erstarb, gingen alle wieder ihre Wege.

So endete auch mein Silvester und glücklich über mein warmes Bettchen, schlief ich eine Stunde später ein – zeitgleich rasteten in Deutschland wohl Millionen von Menschen vor Freude aus. Tja. Nächstes Silvester hoffentlich wieder mit mir zusammen!