Dienstag, 27. Dezember 2011

UNO-Christmas

Am frühen Morgen des 23. Dezembers mache ich mich auf, um nach Vihti zu fahren.
In dieser Stadt möchte ich mit anderen Freiwilligen Weihnachten verbringen. Ich habe mich ziemlich spontan dafür entschieden, vorher war ich zwischen dieser und einer familiären Weihnachtsversion hin und her gerissen.
Während der fünf Stunden langen Bahnfahrt lese ich eine Anthologie verschiedener Weihnachtskrimis und bereite mich somit bestens auf das schrecklichst mögliche Szenario vor.

An diesem Tag sind viele Reisende unterwegs und da ich keine Sitzplatzreservierung habe, muss ich eine Stunde vor Helsinki meinen Sitzplatz wechseln. Mit meinem Fahrtenbären auf den Rücken gehe ich durch einige Abteile und entdecke dabei ein Reiseabteil auf, das speziell für Kinder hergerichtet ist.

Während ich mich in das Abteil darunter setze, verfliegt meine Begeisterung ziemlich schnell, denn ich höre die gesamte restliche Stunde das Rennen kleiner Füße über mir. Wie kommt man überhaupt auf die Idee ein Kinderabteil nach oben zu setzen? 

Manchen männlichen Wesen fehlt es an praktischer Veranlagung.
Als ich endlich in Helsinki ankomme, kämpfe ich mich durch riesige Menschenmassen bis nach vorne an die Supermarktkasse.
Mir fehlt allmählich wirklich das Verständnis für all diejenigen, denen am Tag vor Weihnachten einfällt, dass sie noch nicht alles eingekauft haben. Es sind ja nicht einzelne Personen, nein, es sind tausende. Und die gefüllten Einkaufswagen erinnern mich an so manchen Katastrophenfilm, in dem sich die Betroffenen mit Lebensmitteln für die nächsten zwanzig Jahre eindecken.
Ob ich am Tag vor Weihnachten in Deutschland oder in Finnland den Supermarkt betrete, macht absolut keinen Unterschied.

Knapp eine Stunde später, erreiche ich den Busbahnhof und warte nur wenige Minuten auf die Abfahrt meines Busses, der mich nach Vihti bringt. Mittlerweile ist es dunkel und es regnet. Ich erinnere mich, wie ich mit der Vorfreude nach Finnland gereist bin, eine hundertprozentige Schneewahrscheinlichkeit an Weihnachten zu haben.
Als ich nach einer Stunde in der Zielstadt ankomme, sehe ich nichts. Nur eine Tankstelle und einen Supermarkt. Das ist die Innenstadt?
Doğ kommt aus der Ferne auf mich zu gelaufen. Ich erkenne ihn an seinem extrem auffälligen Gang. Er schaukelt mehr hin und her als ein Kölner nach fünf Kölsch während der Karnevalszeit. „Hast du Hunger?“, fragt er mich und zieht mich in ein kleines Restaurant, welches mir vorher nicht aufgefallen ist.
Seine Freunde sind die Betreiber des Bibers. Ich esse ein belegtes Vollkornbrötchen und kämpfe gegen ein Gähnen an. Ein Gast zeigt mir die Funktionsweise eines Spielautomaten und ich gewinne sogar einige Euros. Trotzdem ergreift mich das Gefühl nicht und ich freue mich sehr, als Doğ mich nach draußen zieht und wir uns auf den Weg machen. Nach zwei Minuten stehen wir im Supermarkt, weit geschafft haben wir es nicht. Wir kaufen noch ein paar Kleinigkeiten ein und dann gehen wir endlich los. Regen und Wind erschweren es mir, motiviert zu laufen. Mein Kumpel erzählt mir unzählige Erlebnisse während seiner Arbeit und dass er Vihti liebt. In meinen Gedanken streiche ich das Wort „Stadt“ aus meinem Vihti-Sprachschatz und ersetze es mit „Ansammlung einiger Häuser“.

„Wie viele kommen denn zum Fest“, frage ich ohne große Erwartungen und als von ihm die Antwort kommt, schlägt mein Herz aus Vorfreude. „Zehn Gäste? Das wird bestimmt richtig toll!“, sage ich und Doğ erklärt mir, dass er lieber wenige Menschen um sich herum hat. Ist ja auch selbsterklärend wenn man aus Istanbul stammt. Oder?
Immer weniger Häuser stehen an dem Weg, den wir nun einschlagen. Endlich erreichen wir das Ziel und ich werde von Tatev, Alina und Lukas begrüßt. Die Küche gefällt mir sofort. Verschiedene Bandposter hängen schief und verkehrt herum an den Wänden. Ein Küchenrollenpaket,   ein Tannenzweig, Weihnachtskugeln und eine Uhr hängen an der Decke.
Schwarze Mülltüten kleben an den Wänden, drei Sessel und etliche Stühle stehen um den Küchentisch herum.
Wir verbringen den restlichen Abend in diesem Hausbereich und reden eine Menge über unsere Erfahrungen. Die vier arbeiten mit Handicap-Menschen zusammen.
An verschiedenen Orten. Es ist faszinierend, wie jeder von uns felsenfest davon überzeugt ist, den besten Arbeitsplatz zu haben.

Nachts teilen Alina und ich uns eine ausgeklappte Couch, deren Kissen sich oft selbstständig machen und ich nachts ständig wieder alle zurecht rücken muss.

Am nächsten Tag feiern wir nicht nur Heiligabend, sondern auch den Geburtstag von Tatev. Mittlerweile sind auch die anderen eingetroffen und wir sind ein bunter Haufen unterschiedlicher Nationen. Drei Türken, eine Armenierin, eine Russin, eine Polin, zwei Deutsche und ein Finne.

Den gesamten Tag verbringen wir wie bei einer typischen Geburtstagsfeier für junge Erwachsene und da sowieso der Schnee fehlt, kommen wir nicht richtig in Weihnachtsstimmung.

Das Radio spielt unentwegt Christmassongs und wir verbringen den Tag mit dem einzigen auffindbaren Kartenspiel „UNO“. Zwischendurch essen wir ziemlich viel. Da ich mir kein weiteres Fettpölsterchen zulegen will und nicht unentwegt mit den UNO-Junkies spielen will, beginne ich mit der Manipulation der Anwesenden, indem ich ihnen unauffällig die Schokoladenteile zu spiele und die anderen diese unbewusst zu sich nehmen. Eine ganze Familienpackung von „Geisha“ kann ich somit auf die Hüften aller anderer Beteiligten bringen und mich selbst davor retten.

Nach Hühnchen und Pommes zum Abendessen, folgt ein riesiger Nutellakuchen, welcher uns alle zur Kapitulation zwingt.
Den nächsten Tag verbringen wir ähnlich, nur essen wir kaum etwas. Braucht man ja auch nicht, wenn andere Dinge zur Verfügung stehen. Etwas verkatert macht ein Teil von uns einen Spaziergang durch die gefrorene Landschaft. „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“, lautet dabei das Motto der Landschaft.

Abends hören wir Weihnachtslieder mit Anti-Weihnachtstexten verschiedener Metal-/Rockbands. Zum Beispiel wird aus "Jingle Bells" ein "Jingle Balls" und in "Oh Christmastree" kreischt nicht nur die Kettensäge. 

Unzählige UNO-Partien später, liege ich endlich wieder auf der Couch und versuche einzuschlafen. Draußen tobt ein sagenhafter Wind und die daraus entstehenden Geräusche, bauen sich automatisch in die Träume vieler Freunde, wie ich später erfahren werde.
Tatsächlich war dieses Weihnachten das beste, welches ich je erlebt habe. Ganz ohne den Geschenkestress, große Kochprozeduren, die gekünstelte Stimmung und alljährlichen Traditionen.

Am nächsten Morgen stehe ich um halb neun auf, weil ich einen der ersten Busse erwischen will. Unten sitzen bereits einige Freiwillige, die das gleiche vorhaben. Mit einem „Hier ist eine Kerze, die wirst du brauchen“, begrüßen sie mich. In der Nacht ist dank des Sturmes ein Baum auf die Stromleitung gefallen. Wer das finnische Stromnetz und deren Aufbau kennt, kann das wunderbar nachvollziehen. In Deutschland sieht man das nur noch ganz selten. Alle paar Meter stehen Holzpfähle an denen oben ein Stromkabel befestigt ist.

Ich dusche in kompletter Dunkelheit mit einem dünnen Wasserstrahl, der mit der Zeit zur Ansammlung einzelner Tropfen wird und trinke kurz darauf einen, auf dem von Holz betriebenen Ofen, erwärmten Tee. Unsere Gespräche werden von Kerzenschein verschönert und handeln nur von dem Stromproblem. Irgendwann fällt mir ein, dass ja nicht nur die Dusche, das warme Wasser und der Kühlschrank nicht mehr funktionieren, sondern auch die Toilette eventuell nicht mehr richtig arbeitet. Wie die anderen das letztendlich auf die Reihe gekriegt haben, weiß ich nicht.

Zu dritt machen wir uns überstürzt auf den Weg zur Bushaltestelle und warten dort im R-Kioski. Während der halben Stunde fällt dort mehrmals der Strom aus und wir sitzen im Dunkeln.
Draußen ist es kalt und immer noch windig. Einzelne Menschen versuchen Vihti genauso zu entkommen, wie wir. Nur kommt der Bus nicht. Irgendwann erfahren wir, dass er durch mehrere umgestürzte Bäume aufgehalten wird. Ich gucke alle paar Sekunden ungeduldig auf mein Handy. Der nächste Bus soll um 11.25 kommen. Mein Zug fährt um 12:52. Mir wird bewusst, wie knapp die Zeit ist und ich ziehe in Erwägung, zu trampen. Der nächste Zug nach Savonlinna würde vier Stunden später fahren. Und ich müsste durch die Nacht zurück zum Opisto laufen.

Endlich kommt der zweite Bus und wir schwingen uns mit eingefrorenen Gliedern hinein. Wenn man es eilig hat, dann geht irgendwie alles schief. Der Busfahrer fährt mit einem Höllentempo über die Dörfer und ich habe das Gefühl, eine alte Person mit Gehwagen würde mich lockerer schneller nach Helsinki bringen. In mir macht sich Verzweiflung breit, es fällt mir schwer mein Schicksal von einer anderen Person am Steuer abhängig zu machen.
An jeder Bushaltestelle stehen wartende Menschen und jeden Einzelnen sammeln wir ein.
Endlich gebe ich auf. Dann komme ich halt zu spät an und warte in Helsinki mit geschlossenen Läden und knurrenden Magen auf den nächsten Zug. Sind ja nur vier Stunden. Ich wende mich zu meinen Freunden und sage zu ihnen, dass es echt großartig wäre, würde der Zug wegen irgendwelcher Probleme verspätet abfahren. Einer von ihnen weist mich darauf hin, dass ich damit lieber nicht rechnen sollte.

Auf einmal hält der Fahrer an und eine Dame sagt, wir sollten jetzt den Bus wechseln,weil dieser angeblich 10 Minuten schneller in der Hauptstadt ankommen wird, als der erste. Tatsächlich fährt der neue Busfahrer so schnell, dass er auf der Autobahn etliche Autos überholen kann und ich überraschend 20 Minuten Zeit habe, um meine Fahrkarte zu kaufen und mich in den Zug zu setzen.
Doch wo ist der Freund, mit dem ich zusammen von Helsinki nach Savonlinna fahren wollte? Wir hatten uns verabredet. Nur noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Ich rufe ihn von dem Zug aus an und wir versuchen mit unserem kaum vorhandenen finnischen Reise-Vokabular, welches wir dringend verbessern sollten, uns zu beschreiben wo wir sind.

Während ich sage, ich befände mich in Nummer Fünf, versucht er mir klar zu machen, dass er sich auch dort befände. Mehrmals gehe ich durch das Abteil. Ich finde ihn nicht. Wieder  frage ich ihn „im Zug nach Joensuu?“ und er bejaht das. Es ist mittlerweile ein Uhr und der Zug steht immer noch. Endlich wird mir bewusst, wo das Missverständnis liegt. Er spricht vom Gleis Nummer Fünf und ich vom Waggon. Gerade noch rechtzeitig können wir das klären und er rennt zum richtigen Zug.
Zwanzig Minuten nach der von Adrenalin begleiteten Suche, entschuldigt sich der Schaffner für die Unannehmlichkeiten, allerdings gäbe es technische Probleme, die durch den nächtlichen Sturm verursacht worden waren.
Ich glaube durch dieses Erlebnis, dass es so etwas wie Schicksal gibt. Und ich zuerst aufgeben und mich dem Geschehen hingeben muss, damit alles seinen Lauf nehmen kann. Letztendlich hatte ich unendlich viel Glück oder ein mich liebendes Schicksal, denn wäre der Zug pünktlich abgefahren, wäre mein Kumpel woanders hingefahren. Er hatte nicht mitgekriegt, dass das Gleis spontan verlegt wurde. Ist auch problematisch, wenn man kaum finnisch oder englisch spricht.
Auf halber Strecke verwandelt sich der Expresszug in einen Intercityzug- das habe ich meinen Lebtag noch nie erlebt.
Die Toilette hat ein Pedal mit dem man die Spülung betätigt, indem man drauf tritt. Ich war kaum überrascht, als der Zug auf einmal eine Notbremsung betätigte und wir im Nichts stehen blieben. Zum Glück nur zehn Minuten. Vielleicht hat ein Finne nur seinen Ausstieg verpasst.


In einer SMS von den in Vihti gebliebenen Freunden erfahre ich, dass der Strom noch immer nicht funktioniert und sie den gesamten Tag schlafend verbracht haben.
Abends um zwanzig Uhr komme ich endlich im Opisto an und stehe vor einem leeren Kühlschrank. Nicht so schlimm, sage ich mir und lege mich später schlafen.

1 Kommentar: